Autor:
Dai Sijie

Biografie:
Dai Sijie, geboren 1954 in der Provinz Fujian in China, wurde 1971 bis 1974 Zuge der kulturellen Umerziehung in ein Bergdorf verschickt. Nach Maos Tod studierte er Kunstgeschichte und emigrierte 1984 nach Paris. „Balzac und die kleine chinesische Schneiderin“, sein erster großer Roman, wurde ein großer internationaler Erfolg und in einer französisch-chinesischen Produktion verfilmt. Zuletzt erschien von ihm auf Deutsch „Muo und der Pirol im Käfig“.

Schauplatz:
kleines Bergdorf bei Sichuan, China

Zeit:
ca. 1971, Kulturrevolution in China

Zeitspanne:
 ~ 1 Jahr

Form und Sprache:

Der Roman „Balzac und die kleine chinesische Schneiderin“ ist in drei Kapitel aufgeteilt. Aus der Sicht eines Ich-Erzählers vermittelt das Werk einen sehr persönlichen Eindruck und es fällt dem Leser dadurch leicht, sich in die Person hineinzuversetzen und sowohl dessen Gedanken, als auch dessen Gefühle besser zu verstehen. So gesehen hat der Autor, Dai Sijie, die richtige Erzählperspektive gewählt, was sicher auch nicht unbeeinflusst davon war, dass dieser selbst die Erfahrungen des Protagonisten in der Umerziehung teilt. Die Geschichte ist durchgehend in Prosa verfasst und enthält kaum schwierige Fremdwörter oder andere unverständliche Ausdrücke, sondern der Verfasser bedient sich einer einfachen Sprachwahl, um vielleicht hervorzuheben, dass die Leute aus dem Bergdorf weniger gebildet sind. Darum liest sich der Roman flüssig und ohne Schwierigkeiten.

Epoche:
Dai Sijies Werk „Balzac und die kleine chinesische Schneiderin“  zählt zu den Romanen des 20. Jahrhunderts, also der Moderne. Im 20. Jahrhundert, da die Künstler die Bedrohung des Menschen intensiv und mit gesteigerter Sensibilität erleben und registrieren und in oft extremer Weise auszudrücken suchen, vergrößert sich die Entfremdung des Romanhelden von seiner Umwelt. Er wird zur totalen Negation des Helden herkömmlichen Typs. Passivität, Leiden, selbstquälerische Reflexion prägen sein Leben, er wird zunehmend unfähig, sinnvoll zu handeln, und er ist sich darüber hinaus dieser seiner Situation bewusst.  Man unterscheidet viele verschiedene Arten des Romans, wie zum Beispiel der biographische Roman, der Großstadtroman, der zeit- und gesellschaftskritische Roman und andere. Dieses Buch lässt sich eindeutig in die Kategorie zeit- und gesellschaftskritische Romane einordnen, wobei er auch autobiographische Züge des Schriftstellers enthält, der sich mit dem Ich-Erzähler der Geschichte identifiziert.

Inhalt: 
China 1971. Im Zuge der Kulturrevolution werden der 18-jährige Luo und sein 17-jähriger Freund zur Umerziehung in ein abgelegenes Bergdorf geschickt, wo sie jeden Tag harter körperlicher Arbeit ausgesetzt sind. Als die jungen Männer eine Tages auf die Tochter des Schneiders treffen, verlieben sie sich beide in sie. Sie begreifen schnell, mit welchen Tricks sie sich das Leben in der Verbannung etwas angenehmer gestalten können. Durch einen Zufall erfahren sie, dass der Brillenschang, ein weiterer Junge, der zur Umerziehung aufs Land geschickt wurde, einen mysteriösen Lederkoffer mit westlicher Weltliteratur besitzen soll. Sie helfen ihm, als dessen Brille, ohne die dieser fast blind ist, kaputt wird und als Gegenleistung borgt der Brillenschang ihnen eines seiner verbotenen Bücher: „Ursula Mirouet“ von Balzac. Luo und sein Freund sind ganz fasziniert von dieser anderen Welt, die ihnen dadurch eröffnet wird und für sie ist nichts mehr so wie es vorher war. Durch dieses Buch gelingt es Luo das Herz der kleinen Schneiderin, die nur wenig lesen und schreiben kann und darum begierig darauf ist, etwas zu lernen, für sich zu gewinnen. Doch der Brillenschang weigert sich, den beiden weitere seiner kostbaren Romane auszuleihen und als dann die Nachricht laut wird, dass der Knabe das Dorf verlassen darf, da er Arbeit gefunden hat, macht sich Verzweiflung in den beiden Studenten breit, denn mit der Abreise des Brillenschangs verschwindet auch der Lederkoffer mit den heiß begehrten Büchern. In einer Nacht- und Nebelaktion gelingt es ihnen jedoch unter Aufbietung all ihrer Nerven und Kräfte den Koffer zu entwenden und ihn in ihre bescheidene Hütte zu bringen. Die Lektüre der "verbotenen Bücher" lässt sie zumindest im Geiste der kräftezehrenden Realität entkommen. Die Bücher von Balzac, Dostojewski, Stehndal, Dumas und anderen Autoren der Weltliteratur verändern das Leben der beiden von Grund auf und auch die kleine Schneiderin ist hingerissen von den Büchern, die ihr Luo vorliest und auch ihr Leben bleibt davon nicht unbeeinflusst. Unbewusst und ungewollt tragen die beiden jungen Männer durch das Erzählen der Romanhandlungen zur Emanzipation der kleinen Schneiderin bei: Sie entdeckt ihr Selbstwertgefühl und beschließt gegen den Willen ihres Großvaters das kleine Bergdorf zu verlassen, um in der Stadt ihr Glück zu suchen. Sie hat die Hoffnung, in der Stadt das zu finden, was ihr die Frauen in Balzacs und Flauberts Romanen vorleben: Selbständigkeit und Anerkennung.

Personen:

Ich-Erzähler:
Da seine Eltern angesehene Ärzte sind und darum als Intellektuelle gelten, wird der Ich-Erzähler gemeinsam mit seinem Freund Luo zur Umerziehung in ein kleines Bergdorf geschickt. Doch er selbst hat nur die Grundschule abschließen können und ist nie auf ein Gymnasium gegangen. Da in diesem Dorf keinerlei „bourgeoisen Dinge“ erlaubt sind, werden zuerst alle mitgebrachten Habseligkeiten der Burschen durchsucht, wobei sie prompt auf die Geige des Ich-Erzählers stoßen. Der Ich-Erzähler ist von Natur aus ein eher zurückhaltender und schüchterner junger Mann und weiß sich nicht zu helfen als der Laoban beschließt, dass das „Spielzeug“ verbrannt werden muss. Zum Glück weiß sein Freund wie man mit solchen Situationen umgehen muss und schaffte es schließlich, ihm aus der Patsche zu helfen. Als er die auf die kleine Schneiderin trifft, verliebt er sich sofort in sie, genau wie Luo, dem es aber zuerst gelingt, ihr Herz zu erobern. Doch der Ich-Erzähler zeigt keine Eifersucht und findet sich mit der Situation ab, obwohl er selbst eine geheime Leidenschaft für Luos Freundin hegt, der aber nichts davon ahnt. Er leidet nicht wirklich unter der körperlichen Arbeit, die er in dem Dorf verrichten muss und ist sich bewusst, dass die Chance, jemals wieder nach Hause zurückkehren zu dürfen, äußerst gering ist, da seine Eltern als „Staatsverbrecher“ angesehen werden und deren Kinder ihr Leben lang in der Umerziehung verweilen müssen. Trotzdem klammert er sich an das kleine Fünkchen Hoffnung, das für ihn noch bleibt. Er sehnt sich nach seinem Zuhause, was in der Stelle, als er ein paar Zeilen aus „Ursula Mirouet“ auf die Innenseite seines Mantels abschreibt, deutlich zum Ausdruck kommt: „In meinem Bett schlafen und sehen, was meine Mutter in unserer fünfhundert Kilometer entfernten Wohnung macht, zuschauen, wie meine Eltern zu Abend essen, die Farbe der Gerichte sehen, deren Duft einatmen, ihre Unterhaltung mit anhören…“ ( Sijie, Dai. Balzac und die kleine chinesische Schneiderin; 2001 Piper Verlag GmbH, München; S.65). Durch das Buch des Brillenschangs verändert sich sein Leben von Grund auf und er erkennt, dass die Welt eine ganz andere ist, als in diesem Bergdorf. Er will mehr von dieser weltlichen Literatur da es auf dem Land beinahe keinerlei Abwechslung geschweige denn etwas gibt, um seinen Horizont zu erweitern. Darum lässt sich der Ich-Erzähler auf ein Wagnis ein, das er unter anderen Umständen gemieden hätte. Dem Brillenschang wurde der Auftragt erteilt, alte Volkslieder für eine revolutionäre Zeitschrift zu sammeln, doch er scheitert in seinem Vorhaben. Die beiden jungen Männer sehen darin die Gelegenheit an weitere Bücher zu kommen und bieten an, ihrem Freund zu helfen. Beim alten Müller, der angebliche viele Volkslieder kennen soll, geben sie sich als Offizier und dessen Sekretär aus, um brauchbares Material für ihren Freund zu sammeln. Doch dem Ich-Erzähler ist nicht ganz wohl bei der Sache: „ In meinem ganzen Leben hatte ich mich noch nicht zu solche einer Farce hinreißen lassen. Ich bedauerte unseren Inkognito-Besuch aus tiefstem Herzen. Und dies alles bloß, um Brillenschangs unmögliche Aufgabe zu erfüllen!“ (a.a.O.; S.77) Daran erkennt man, dass der Ich-Erzähler ein von Grund auf ehrlicher Mensch ist und nicht gerne lügt, auch wenn es um sein eigenes Wohl geht. Er hat anderen Menschen gegenüber keine Vorurteile und würde nie grundlos jemandem hassen, doch als der Brillenschang unzufrieden mit den Liedern ist, die die beiden für ihn aufgeschrieben haben, treibt ihn das zur Weißglut, doch er kann sich noch eines Besseren besinnen: „Plötzlich hasste ich den Brillenschang, es war jedoch nicht der richtige Moment, es ihm zu sagen. Ich wollte lieber warten, bis er sein Versprechen hielt und uns die Bücher lieh.“ (a.a.O.; S.85) Obwohl er den tiefen Drang spürt, dem Brillenschang seinen Hass zu zeigen, übertrifft dieser jedoch nicht das Verlangen nach Büchern und Bildung. Doch als es der Brillenschang zu weit treibt, kann sich auch der gutmütige Bursche nicht mehr länger zurückhalten: „ Ich schoss empört auf und stürzte mich auf ihn. Ich wollte ihm bloß das Blatt aus der Hand reißen, doch in meiner besinnungslosen Wut schlug ich ihm mit der Faust ins Gesicht.[…] Ich wollte meine Blätter wiederhaben, sie zerreißen, ihm die Fetzen in den Mund stopfen, doch er ließ sie nicht los.“ (a.a.O.; S.87) Auch die Abreise des Freundes und somit der begehrten Literatur kann ihn nicht davon abhalten in den Besitz dieser Werke zu gelangen, obwohl der junge Mann zuerst niedergeschmettert und am Boden zerstört ist und schon fast alle Hoffnung für ihn verloren scheint. Doch gemeinsam mit Luo und der kleinen Schneiderin entwickelt er einen todsicheren Plan, der es ihnen ermöglicht den Lederkoffer n die Hände zu bekommen: Sie wollen am letzten Tag des Brillenschangs im Dorf, in deinem zu seiner Ehren ein Fest gegeben wird, in dessen Hütte eindringen und den Koffer stehlen, obwohl der Ich-Erzähler auch dabei seine Bedenken hat, da er es nicht für richtig hält, jemanden zu bestehlen, doch auch hier siegt nicht die Vernunft in ihm, sondern die Begierde nach den Schätzen, und als nun endlich der Moment gekommen ist, in dem die Bücher in den Besitz der beiden Freunde übergehen, überrollt ihn eine Welle des Glücks: „Wir hielten den Atem an. Mir schwindelte. Ich nahm die Bücher eines nach dem andern in die Hand, schlug sie auf, betrachtete die Porträts der Autoren, reichte sie Luo weiter. Sie mit den Fingerspitzen berühren zu dürfen war, als würden Leben einen durchströmen, andere Leben.“ (a.a.O.; S.110). Es ist für ihn schon Ehre allein, diese wertvollen Bücher überhaupt in Händen halten zu dürfen und man erkennt an dieser Stelle ganz deutlich, wie viel ihm das bedeutet. Als jedoch plötzlich der Brillenschang und dessen Mutter unerwartet die kleine Hütte betreten, können sich die Studenten noch rechtzeitig verstecken und die Mutter scheint schon zu ahnen, dass sie es auf den Koffer, den die beiden unverschlossen auf dem Bett liegengelassen haben, abgesehen haben, doch durch einen glücklichen Zufall verlassen Mutter und Sohn das Zimmer bald wieder, da dem erfolgreich Umerzogenen vom Trinken des Büffelblutes, eine alte Tradition in dem Bergdorf, übel geworden ist. Der Ich-Erzähler hegt schon die starke Befürchtung entdeckt zu werden und somit den Koffer und dessen Inhalt endgültig zu verlieren und als sich doch noch alles zum Guten wendet, fällt ihm ein Stein vom Herzen.
Schon bald hat er, nach Lesen aller Bücher, sein absolutes Lieblingswerk in „Johann Christof“ von Romain Rolland gefunden. Obwohl er sonst ein bescheidener Bursche ist, der nichts dagegen hat seine Habseligkeiten mit anderen zu teilen, verhält sich die Sache im Falle dieses Buches anders: „ Meine Verehrung für Johann Christof war so groß, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben etwas für mich allein besitzen wollte, für mich ganz allein und nicht mehr gemeinsam mit Luo.“ (a.a.O.; S.119) Im Gegenzug widmet er seinem Freund, der seine Schwäche für Balzac beibehalten hat, drei Werke seines Lieblingsautors, woran man erkennen kann, wie viel ihm an diesem einen Buch liegt, das er im Laufe der Geschichte allerdings wieder verliert.
Anders als erwartet hat dem Ich-Erzähler das harte und teilweise qualvolle Leben durch die Arbeit in der Umerziehung zugesetzt, doch er erhält eine Gelegenheit dem Urheber dieses Leidens, dem Laoban, dem Vorsitzenden des Dorfes, heimzuzahlen, auch wenn dies sonst nicht seine Art ist. Als der Laoban mit Zahnschmerzen zu Luo und ihm kommt, damit seinen Schmerzen endlich ein Ende bereitet werden kann und der Ich-Erzähler die Aufgabe erhält, die Nähmaschine des alten Schneiders zu benutzen, die wie ein Zahnarztbohrer den Karies entfernen soll, kann er nun endlich Rache nehmen: „Plötzlich spürte ich aus meinen Eingeweiden eine sadistische Regung aufsteigen, es war wie eine Eruption: Ich erinnerte mich an die unsäglichen Leiden unserer Umerziehung … und hörte abrupt auf zu treten. Luo blinzelte mir verschmitzt zu. Ich verlangsamte das tempo ein zweites Mal, diesmal, um mich für seine Anschuldigungen zu rächen. Die Nadel drehte sich langsam, langsam wie ein erschöpfter Bohrer, der demnächst den Geist aufgibt.“ (a.a.O.; S. 145/146)
Als sein Freund Luo für einen Monat in seine Heimat zurückkehren darf, erhält der Ich-Erzähler die Aufgabe, die kleine Schneiderin, die von vielen anderen jungen Männern aus dem Dorf begehrt wird, zu bewachen und sich um sie zu kümmern. Der junge Mann nimmt diese wichtige Aufgabe sehr ernst und weicht das ganze Monat lang kaum von der Seite des Mädchens. Das Vertrauen seines Freundes in ihn bedeutet ihm viel und er will diesen um keinen Preis enttäuschen, obwohl dessen Abwesenheit auch zu seinen Gunsten hätte nützen können, um die Schneiderin für sich zu gewinnen, doch die Freundschaft zu Luo und seine Loyalität ihm gegenüber sind stärker als seien Gefühle für die junge Frau: „ Ich hätte sie gern gebeten, am nächsten Morgen ihre rote Fingernägel küssen zu dürfen … nur einen, als Entschädigung für mein kleines Meisterwerk, die noch frische Narbe an ihrem Mittelfinger zwang mich jedoch, die von meinem Status diktierten Verbote zu achten und das gegenüber dem General eingegangene ritterliche Versprechen einzuhalten.“ (a.a.O.; S.166)
Als ihm die kleine Schneiderin eine Tages von ihrer Schwangerschaft berichtet und ihrer Angst, als Ausgestoßene zu enden, da es in dem Dorf nicht erlaubt ist, vor der Ehe Kinder zu bekommen, sie jedoch noch zu jung dafür ist, um Luo zu heiraten, setzt der junge Mann alles daran, um dieser zur Seite zu stehen, und eine Lösung für ihr Problem zu finden. Es gelingt ihm nach langem Warten und dem Verlust seines Lieblingsromans, einen Abtreibungstermin im Krankenhaus der Stadt für das Mädchen zu bekommen. Ihm liegt viel an ihr, obwohl er sich dessen bewusst ist, dass zwischen ihnen nie mehr als Freundschaft bestehen kann.
Auch er ist tief getroffen, als er vom verschwinden der kleinen Schneiderin erfährt, die sich auf den Weg in die Stadt gemacht hat, ohne auch nur die geringste Nachricht zu hinterlassen: „ Im Geheimen und zum ersten Mal war ich der Kleinen Schneiderin böse. Obwohl ich mich auf die Rolle des Zuschauers beschränkte, fühlt eich mich ebenso verraten wie Luo, nicht durch ihren Weggang, sondern durch die Tatsache, dass sie mir nichts davon gesagt hatte, als ob für sie unsere Komplizenschaft während Luos Abwesenheit nicht mehr existierte. Als sei ich für sie nichts anderes gewesen – und würde nie etwas anderes sein – als ein Freund ihres Freundes.“ (a.a.O.; S.199)

Luo:
Luos Vater ist Zahnarzt und hatte einst unseligerweise die Namen des Ehepaares Mao in einem Atemzug mit deren Gegenspielern genannt. Darum gilt er als „Staatsverbrecher“ und Luo, der gerade einmal drei Oberstufenjahre absolviert hat, wird in die Umerziehung geschickt. Doch sein Charakter ist vollkommen anders als der seines Freundes. Im Gegensatz zu ihm, weiß Luo sich immer irgendwie aus der brenzligsten Situation herauszureden und sich dadurch einen gewissen Vorteil zu verschaffen. Er ist ein guter Kamerad, da er dieses „Talent“ nicht nur für seine persönlichen Zwecke einsetzt, sondern damit auch seinem Freund, der, wie gesagt, mit schwierigen Situationen nicht umzugehen weiß. So gelingt es zum Beispiel Luo, als das Gepäck der zwei Freunde von den Dorfbewohner penibelst unter die Lupe genommen wird, zu verhindern, dass die geliebte Geige seines Kumpanen nicht den Flammen zum Opfer fällt, da der Laoban diese als bourgeoises Spielzeug zu identifizieren glaubt. Luo erklärt den Dorfbewohnern, wozu dieses „Spielzeug“ in Wirklichkeit dient und kann einen schlaue Ausrede erfinden, als diese wissen wollen, wie die Sonate heißt, die sein Freund auf der Geige spielt: „Mozart ist mit seinen Gedanken immer beim Großen Vorsitzenden Mao“ – da er sich dessen bewusst ist, dass die Einwohner und der Laoban nichts dulden würde, was nicht unmittelbar mit Mao Zedong zu tun hat. Er ist ein äußerst cleverer Bursche, da er seinen Wecker und das technische Unwissen des Laoban, der immer beim Läuten des Weckers zur Arbeit ruft, Luo aber die Zeit immer wieder zu seinen Gunsten verstellt, zu seinem Vorteil zu nutzen weiß. Der einzige Haken dabei ist allerdings, dass Luo mit der Zeit und dem immer wieder Umstellen des Weckers, selbst das Gefühl für die Uhrzeit verliert. Der junge Mann scheint der furchtlosere der beiden Freunde zu sein, doch im Laufe der Geschichte wird man auch über seine einzige Schwäche aufgeklärt: Er leidet unter Höhenangst: „Wie er es geschafft hatte hinüberzukommen, ist mir bis heute noch ein Rätsel. Luo hatte vor nichts Angst, außer vor der Höhe. Er war ein Intellektueller, der in seinem Leben noch nie auf einen Baum geklettert war. Ich erinnere mich an einen Nachmittag fünf oder sechs Jahre früher, als wir auf den Gedanken gekommen waren, die rostige Eisenleiter eines Wasserturms hinaufzuklettern. Schon nach ein paar sprossen waren seine Handflächen vom abblätternden Rost blutig geschürft. […] Schließlich gab er auf und ließ mich allein bis zuoberst hinaufklettern […] Die Jahre vergingen, doch seine Höhenangst blieb. Auf dem Bergpfad liefen die Kleine Schneiderin und ich tatsächlich fröhlich über Steige und Felskämme, doch wir mussten oft lange auf Luo warten, weil er aus Angst auf allen vieren über die gefährlichen Stellen kroch“ (a.a.O.; S.121).Trotzdem versucht er, diese Angst irgendwie zu überwinden, nur der kleinen Schneiderin zuliebe.

Der Junge war schon von klein auf eine starke Persönlichkeit und verehrte seine Eltern sehr, was in einer kleinen Anekdote des Ich-Erzählers deutlich hervorgehoben wird: „ Auf dem Basketballfeld des Krankenhauses, in dem mein Eltern arbeiteten, fand an jenem Nachmittag eine große politische Versammlung statt. Wir wusste beide, dass diese Versammlung Luos Vater galt und dass man ihn öffentlich seiner Verbrechen anklagen würde. Als gegen fünf immer noch niemand nach Hause gekommen war, bat mich Luo, ihn zu begleiten. „Wir werden uns die Kerle merken, die meinen Vater erniedrigen und foltern“, sagte er, „und wenn wir älter sind, rächen wir ihn.“ (a.a.O.; S.12)
Ein weiteres seiner zahlreichen Talente liegt im Geschichtenerzählen, weshalb der Laoban ihn und seinen Freund immer wieder in die Stadt zu Kinovorstellungen schickt, die die beiden den Dorfbewohnern dann bis ins kleinste Detail, und manchmal auch darüber hinaus, nacherzählen müssen. Schon bald sind alle von Luos großer Begabung fasziniert und auch die kleine Schneiderin kann gar nicht genug von den vielen Geschichten bekommen, die ihr Luo im Laufe seines Aufenthaltes in dem Dorf vorträgt. Doch der junge Mann bildet sich keineswegs etwas darauf ein und versucht nicht, sich dadurch in den Vordergrund zu drängen. Im Gegenteil. Es ist im manchmal sogar ganz recht, wenn sein Freund für ihn das Erzählen übernimmt, der sich aber auch lieber im Hintergrund hält.
Auch Luos Neugier ist geweckt, als er von der Existenz des geheimen Lederkoffers des Brillenschangs erfährt, der angeblich voll von westlicher Literatur sein soll. Er will diesen unbedingt in seine Hände bekommen, da ihm, als Intellektuellen, das Lesen sehr abgeht und als er erfährt, dass der Brillenschang Hilfe gebrauchen könnte, da er seine Brille verloren hat, sieht er darin die ideale Möglichkeit eines dieser Bücher ausgeliehen zu bekommen, obwohl der Besitzer des Koffers immer wieder leugnet etwas über einen Lederkoffer mit Büchern zu wissen. Schlussendlich gelingt es Luo, einen der Romane aus dem ominösen Koffer zu erhalten. Er behandelt es wie den größten Schatz auf Erden und macht sich sofort daran, diesen zu lesen. Auch der kleinen Schneiderin, die ihm sehr viel bedeutet, da er sich, genau wie sein Freund, unsterblich in sie verliebt hat, will er etwas beibringen und macht sich auch sogleich daran, ihr aus dem Werk von Balzac vorzulesen, wodurch es ihm gelingt, das Mädchen für sich zu gewinnen. Im Gegensatz zu seinem Freund gehört seine Leidenschaft von Anfang an Balzac und dessen Romanen. Seit „Ursula Mirouet“ ist er fasziniert von dessen Art zu denken und zu schreiben und versucht auch, der kleinen Schneiderin dafür zu begeistern, was ihm durchaus gelingt.
Da sich Luo und sein Freund schon von klein auf  kennen, ist eine starke Bande zwischen den beiden geknüpft worden und Luo würde beinahe alles für seinen Kameraden tun. Als dieser vom Laoban beim Erzählen einer „reaktionären“ Geschichte erwischt wird und ihm eine schlimme Folterstrafe droht, bietet Luo ihm sogar an, mit ihm mitzukommen, doch sein Freund lehnt das entschieden ab. Doch er kann ihm doch noch helfen, da der Dorfvorsitzende von ihm verlangt, seinen von Karies befallenen Zahn zu behandeln, was Luo beim ersten Mal bitten vor ein paar Tagen entschieden abgelehnt hat. Aber um seinen besten Freund nicht der Folter aussetzen zu müssen, lässt er sich doch noch dazu überreden und kann ihn somit davor bewahren.
Auch Luo, der doch sonst immer den starken mimt und dem nicht anzusehen ist, wenn es ihm einmal nicht gut geht, überfällt einen Tages Heimweh, als er mit der kleinen Schneiderin am Wasser sitzt und dort eine Schildkröte sieht, die sich, im Gegensatz zu ihm, frei bewegen kann: „Ich hatte einen schrecklichen Durchhänger. Ich klappte das Taschenmesser zu und betrachtete, einen nach dem andern, die am Ring befestigten Schlüssel: die Schlüssel zu unserer Wohnung in Chengdu, die ich nie wieder brauchen würde. Und mir kamen die Tränen. Ich war eifersüchtig auf die Schildkröte, di frei herumlaufen konnte. In meiner Verzweiflung schleuderte ich den Schlüsselring ins Wasser.“ (a.a.O.; S.153)
Als der junge Mann für einen Monat in seine Heimat reist, zeigt sich deutlich, was für ein Vertrauen er in seinen Freund hat: Er trägt ihm auf, in dieser Zeit seiner Abwesenheit über die kleine Schneiderin zu wachen: „Dass er mich vor seiner Abreise um diesen Dienst bat, war der Beweis, dass Luo mir grenzenloses Vertrauen schenkte; als hätte er mir einen märchenhaften Schatz anvertraut, die angehäuften Reichtümer seines Lebens, ohne zu befürchten, ich könnte sie ihm stehlen.“ (a.a.O.; S.161) – denkt sich auch sein Freund, der diese Aufgabe sehr ernst nimmt und Luo nicht enttäuschen will. Luo weiß, dass er sich auf ihn in jeder Situation verlassen kann und sein Freund die Gelegenheit nicht ausnutzen würde, abgesehen davon, dass Luo sich gar nicht so richtig bewusst ist, dass auch sein Kamerad Gefühle für die kleine Schneiderin hegt, was auf einen Anflug von Naivität in seinem Charakter schließen lässt, die aber sonst, aufgrund seines üblichen Auftretens, nicht so deutlich zum Ausdruck kommt.
Luo ist am Boden zerstört, als er erfährt, dass die kleine Schneiderin das Dorf verlässt und ihm nichts davon gesagt hat. Dies beweist, dass er ihr gegenüber ernsthafte Gefühle entgegengebracht hat und ihre Liebesbeziehung für ihn nicht nur eine vorübergehende nette Ablenkung war: „Luo stürmte Hals über Kopf davon, rannte verzweifelt die steilen Bergpfade talwärts, um die Kleine Schneiderin einzuholen.“ (a.a.O.; S.197)
Doch auch ihm mag es nicht gelingen, das Mädchen von ihrem Plan abzuhalten und sie wieder ins Dorf zurückzubringen.
 
Kleine Schneiderin: Von Geburt an lebt das Mädchen, das alle nur die Kleine Schneiderin nennen, seinen wirklichen Namen erfährt man während des ganzen Romans nicht, in einem kleinen Bergdorf, wo die Bewohner hart arbeiten müsse, um für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Auch ihr bleibt die Arbeit nicht erspart und sie muss ihrem Vater, dem alten Schneidermeister, bei seinen Aufträgen helfen. Da sie nicht in die Stadt gehen darf, bleibt ihr jegliche Bildung verwehrt und nur der Vater kann seiner Tochter bruchstückhaft Lesen und Schreiben beibringen, damit sie keine Analphabetin ist. Als die kleine Schneiderin Luo und seinen Freund kennen lernt, schließt sie sofort Freundschaft mit den beiden Burschen, da das Leben für sie in dem Dorf kaum Abwechslung zu bieten hat. Sie bewundert deren Einstellung zum Leben und das die beiden so gebildet sind, darum ist sie begierig darauf, etwas von ihnen zu lernen. Sie ist als die Dorfschönheit bekannt und von vielen anderen jungen Männern umschwärmt. Auch Luo und sein Freund können sich dem naiven Charme, den sie ausstrahlt, nicht entziehen und verlieben sich ihn sie. Die kleine Schneiderin schätzt zwar die Freundschaft zum Ich-Erzähler, entscheidet sich aber für Luo, der ihr, unter anderem, das Schwimmen beibringt und ihr, wann immer er sie besuchen kommt, Geschichten erzählt. Sie hegt eine zärtliche Liebe zu ihm und genießt jede Minute, die sie mit ihm verbringen kann und macht ihm gern eine Freude: „Wieso es mir Spaß machte, Luos Schlüsselring heraufzuholen? Ach so. Verstehe. Du denkst bestimmt, ich sei läppisch wie ein Hund, der nach dem Knochen rennt, den sein Meister ihm Wirft. Ich bin nicht wie die französischen Mädchen in Balzacs Romanen. Ich bin ein Kind der Berge. Ich mache Luo gern eine Freude. Das ist alles.“ (a.a.O.; S.157)  Sie ist es, die die Idee hat den Bücherkoffer des Brillenschangs zu stehlen, da sie einerseits ihren Freunden gerne helfen möchte, andererseits aber auch aus Egoismus, um selbst durch die Literatur etwas gebildeter zu werden. Vor allem ihre mädchenhafte Naivität ist es, die Luo so sehr an ihr mag: “Sie ist bestimmt der einzige Mensch auf der Welt, der fest daran glaubt, dass ich eines Tages aus der Umerziehung entlassen werde und dann meine Schlüssel brauche.“ (a.a.O.; S.154) – denkt sich Luo, als die beiden wieder einmal an ihrer Lieblingsstelle sitzen, wo Luo ihr immer ein paar Seiten aus einem der Bücher vorliest, meist einen von Balzac, und die kleine Schneiderin den Schlüssel, den Luo ins Wasser geworfen hat, heraufholt. Man sieht deutlich, dass das Mädchen ein Mensch ist, der nicht so schnell die Hoffnung und den Glauben an das Gute aufgibt und sie versucht auch Luo diesen Glauben an Hoffnung zu vermitteln.
Als an Luos Stelle immer der Ich-Erzähler sie besuchen kommt, um ihr aus den Büchern vorzulesen, die dem Inneren des Lederkoffers entstammen, schimmert wieder etwas ihre unschuldige Naivität durch: „ Die Kleine Schneiderin hatte natürlich keine Ahnung, dass sie unter besonderem Schutz stand, und betrachtete mich schlicht als stellvertretenden Vorleser.“ (a.a.O. S.163) Sie bemerkt kaum, dass sie von vielen anderen jungen Männern begehrt wird, sonder konzentriert sich ganz auf Luo, wegen dem sich auch keine anderen Verehrer zu ihr trauen. Sie weiß auch nicht, dass Luos Freund sehr von ihr angetan ist, der sich aber in ihrer Gegenwart dezent zurückhält.
Durch das Entdecken ihrer Schwangerschaft macht sich Verzweiflung in ihr breit und sie ist vollkommen ratlos, da sie sich bewusst ist, dass sie niemandem im Dorf ihr Geheimnis anvertrauen kann, weil es nicht erlaubt ist vor der Ehe ein Kind zu bekommen, sie aber noch zu jung ist, um Luo zu ehelichen. In ihrer ganzen Verzweiflung weiß sie sich nicht zu helfen und kann sich nur an eine einzige Person wenden, da Luo zu dieser Zeit noch in seiner Heimat verweilt: Luos Freund, der während dessen Abwesenheit stets für sie da war und für sie somit ein echter Freund geworden ist. Er ist ihre einzige Hoffnung und sie ist sich im Klaren darüber, was es heißen würde, wenn auch er keinen Weg findet, sie ihr aus ihrem Schlamassel herauszuhelfen. Doch es gelingt ihm einen Abtreibungstermin im Krankenhaus der Stadt für sie zu vereinbaren und sie so aus ihrer misslichen Lage zu befreien, sodass sie ihr Leben wie gewohnt weiterführen kann, nur, dass sich ihr Leben seit der Bekanntschaft mit den beiden Freunden und den westlichen Romanen komplett geändert hat. Von einem Tag auf den andern trennt sie sich von ihrem schönen langen Zopf und lässt sich einen städtischen Kurzhaarschnitt machen – der erste Schritt ihrer äußerlichen Veränderung, denn innerlich ist sie schon die längste Zeit ein anderer Mensch geworden. Die Bücher sind dabei ihre Inspiration: „ Vor ungefähr zwei Monaten hatte Luo mir erzählt, sie hätte sich nach einer Zeichnung, die sie in Madame Bovary gesehen hatte, einen Büstenhalter genäht. […] Ihr neuester Spleen sei, hatte Luo mir anvertraut, den Mädchen aus der Stadt gleichen zu wollen: „Sie imitiert jetzt beim Sprechen unseren Akzent.“ (a.a.O.; S.194) Sie näht sich noch weitere Kleidungstücke um und läst sich von ihrem Vater aus der Stadt Tennisschuhe mitbringen. Doch die beiden jungen Burschen verstehen nicht, was das Mädchen damit bezwecken will, die nun scheinbar erkannt hat, dass sie mehr aus ihrem Leben machen will, als nur in diesem Bergdorf zu bleiben und als Schneiderin zu arbeiten. Die kleine Schneiderin beschließt, ihren Heimatort zu verlassen, um in die Stadt zu gehen und dort ihr Glück zu versuchen. Sie hat Luo und seinem Freund absichtlich nicht davon in Kenntnis gesetzt, da sich sicher war, dass Luo versuchen würde, sie aufzuhalten, das Mädchen aber gewillt ist, etwas in ihrem Leben zu ändern. Obwohl Luo ihr nachläuft, als er die Nachricht erfährt, und sie tatsächlich zum Bleiben überreden will, ändert sich nichts an ihrem Entschluss und sie setzt ihren Weg in die Stadt fort. „Sie hat gesagt, sie habe dank Balzac etwas begriffen: dass die Schönheit der Frau ein unbezahlbarer Schatz ist.“ (a.a.O.; S.200) – war ihr Argument, als sie Luo Lebwohl gesagt hat.

Problematik:

"Balzac und die kleine chinesische Schneiderin" erzählt die Geschichte von zwei Jungen, die in der Zeit der Kulturrevolution zur Umerziehung in ein abgelegenes Bergdorf geschickt werden, wo selbst das bescheidenste kulturelle Angebot fehlt.  Die Bauern in den Bergdörfern, die Träger der revolutionären Umgestaltung, kennen nichts außerhalb ihrer Umgebung und für sie ist daher alles städtische, wie beispielsweise die Geige des Ich-Erzählers, die sie nirgends genau zuordnen können, völlig fremd und stehen dieser daher auch sehr skeptisch gegenüber: „Der Laoban hielt die Geige senkrecht hoch, um wie ein pingeliger Zollbeamter, der nach Drogen sucht, misstrauisch durch das Schallloch in den Resonanzkasten zu spähen […] Er hielt die Geige vor die Augen, schüttelte sie kräftig, offenbar felsenfest davon überzeugt, dass etwas herausfallen musste.“ (a.a.O.; S.5)
Im Vordergrund der Geschichte steht die kulturelle Umerziehung der beiden Studenten, die nicht einmal die Oberstufe abschließen konnten und trotzdem als „Intellektuelle“ gelten und daher zur Arbeit in ein Bergdorf geschickt werden. Mao Zedong, der Urheber dieser Kulturrevolution, ließ Ende 1967 alle Universitäten und Schulen schließen und der Unterricht wurde abgeschafft. Stattdessen ließ er alle intellektuellen Jugendlichen, also Gymnasiasten und Absolventen höherer Schulen, aufs Land zur Arbeit delegieren und Funktionäre, Lehrer, Vorgesetzte und Künstler wurden in Kampagnen öffentlich angegriffen und verspottet; einige mussten sogar ins Gefängnis oder wurden zur Abschreckung der Volkgegner hingerichtet. So musste auch Luos Vater eine öffentliche Anklage über sich ergehen lassen, da er als „Staatsverbrecher“ galt, obwohl er im Grunde genommen nichts Schlimmes getan hatte. Massenbewegungen gegen die Intellektuellen waren an der Tagesordnung und zwei Punkte der Revolutionäre, die diesen Roman prägen sind: (14.) „Die Intellektuellen sollen in Dörfern arbeiten.“ und  (23.) „ Bücher, die nicht das Denken Mao Zedongs wiedergeben, müssen verbrannt werden.“
Viele Jugendliche mussten ihr ganzes Leben in dieser Umerziehung durch die revolutionären Bauern fristen und hatten kaum Aussichten auf eine Rückkehr. So sind sich auch Luo und sein Freund durchaus im Klaren darüber, dass sie kaum eine Chance haben, je wieder etwas anderes zu sehen, als die Umgebung in ihrem Bergdorf: „Unsere Situation war ausweglos: Wir waren dazu verdammt, unser ganzes Leben in der Umerziehung zu verbringen. Laut den offiziellen Parteizeitungen hatte ein Student aus einer normalen Familie, das heißt aus einer revolutionären Arbeiter- oder Intellektuellenfamilie, der sich gut aufführte, eine hundertprozentige Chance, seine Umerziehung innerhalb von zwei Jahren zu beenden und zu seiner Familie in die Stadt zurückkehren zu können. Doch für die Söhne und Töchter der als „Volksfeinde“ eingestuften Familien war die Chance, nach Hause entlassen zu werden, gleich drei zu tausend.“(a.a.O.; S.21/22).
Während dieser Umerziehung sind die beiden jungen Männer ständig harter Arbeit ausgesetzt, wie zum Beispiel der Tätigkeit in dem tiefen dunklen Stollen, in dem sie sich aufgrund der Finsternis schlecht zurechtfinden: „ Wenn der Gang abwärts führte, sah man das Licht eine ganze Weile nicht mehr, und man hörte nur noch das Knirschen eines schweren, über den Schotterboden geschleppten Korbes und zwischendurch das endlos in der Finsternis widerhallende Stöhnen eines Mannes.“ (a.a.O.; S. 34) Diese Anstrengung war eine so große körperliche Belastung, dass die beiden in der Kohlezeche wohl kaum überlebt hätten, wenn sie einander nicht geholfen hätten: „ Er war nackt, nur mit einem Lederriemen gegürtet, der sich tief in sein Fleisch einschnitt. In diesem infernalischen Geschirr eingespannt, schleppte er einen großen ovalen Korb hinter sich her, der mit schweren Anthrazitbrocken beladen war. Zwischendurch war der Gang so niedrig, dass er auf allen vieren vorwärts kriechen musste.“ (a.a.O.; S.34) Dies war nur eine der vielen Umerziehungsmaßnahmen, die jungen Städtern nicht erspart blieb und die beiden Freunde konnten die Qualen nur ertragen, weil sie nicht ihr gesamtes Leben in dem Dorf verweilen wollten: „ Offen gestanden: wir nahmen diese höllische Prüfung bereitwillig auf uns, um wegen der lächerlichen „drei Promille“ im Rennen zu bleiben. Wir konnten uns ja nicht vorstellen, dass die Zeche untilgbare Spuren – physische und psychische – hinterlassen würde.“ (a.a.O.; S.35) Da dieser Stollen schon seit einer Ewigkeit existierte und kaum bis gar nicht geschützt war, riskierte man jeden tag, von Gesteinsbrocken erschlagen zu werde. Daran sieht man deutlich, dass drastische Maßnahmen ergriffen wurden, um die jungen Intellektuellen erfolgreich umzuerziehen. Dies geht sogar so weit, dass Luo aufgrund der schonungslosen Arbeit an Malaria erkrankt. Natürlich haben die Leute aus dem Dorf nicht die notwendigen Medikamente, um diese ernste Krankheit erfolgreich zu behandeln. Sie verfügen nur über die heilende Wirkung der Pflanzen aus der Natur und anderen Aberglauben, wie man Krankheiten aus dem Körper austreiben kann. In Luos Fall wollen sie die Krankheit mit Hilfe von Weidenzweigen aus ihm herauszupeitschen, doch dies erzielt nicht die gewünscht Wirkung und Luo kann die Erkrankung nur mit Hilfe der kleinen Schneiderin, die anscheinend eine Expertin ist, wenn es um solche Dinge geht, besiegen. Man kann es sich nicht leisten, der Arbeit fern zu bleiben, da die Bauern die Entscheidung zu treffen hatten, ob man genügend „umerzogen“ war, also konnte der kleinste Fehler fatale Folgen nach sich ziehen. Die Bildung bleibt während der ganzen Zeit der Umerziehung auf der Strecke, da jegliche Literatur, die die Ansichten des Diktators nicht teilten, verboten waren und die Dorfbewohner, vor allem der Laoban, reagieren äußerst ärgerlich, wenn sie auch nur einen Satz hören, der nicht ihrer Anschauung entspricht, wie beispielsweise die Geschichte des Grafen von Monte Christo, die der Ich-Erzähler dem alten Schneider vorträgt und dabei vom Dorfvorsitzenden erwischt wird  ihm daher eine strenge Strafe droht.
Die Dörfer bieten kaum Abwechslung, geschweige den jeglichen Komfort. Darum sind die beiden Freunde immer froh, wenn sie wieder einmal die Stadt besuchen dürfen, um sich eine Kinovorstellung anzusehen, was ihnen der Laoban aufgetragen hat, damit sie diese dann der gesamten Dorfbevölkerung vortragen können. Daran erkennt man, dass auch den Bewohnern mit der Zeit das Alltagsleben in ihrer kleinen Gemeinde langweilig wird und sie sich nach etwas Ablenkung sehnen, die ihnen dann die beiden jungen Männern bieten, wenn sie einen Film nacherzählen: „ Der Berg des Phönix-des-Himmels war so weit von der Zivilisation entfernt, dass die Menschen, die an seinen Hängen lebten, noch nie einen Film gesehen hatten und auch nicht wussten, was ein Kino ist. Luo und ich hatten dem Laoban ein paar Mal eine Film erzählt, und seither war er begierig auf Kinogeschichten.“ (a.a.O.; S.23) Die Hütte der Studenten ist mit so wenig wie möglich ausgestattet und musste mit einer kleinen Petroleumlampe auskommen, die den Raum nur spärlich beleuchten konnte.
Ein weiterer Aspekt ist, dass der Autor zeigt, wie sehr einem die Literatur das Leben erleichtern und beeinflussen kann. Die Bücher wecken in ihnen den verbotenen Wunsch nach Freiheit und persönlicher Entfaltung. Die beiden Freunde haben viel mehr Spaß am Leben, seit sie in den Besitz des Lederkoffers gekommen sind und nehmen auch jede schwere Arbeit auf sich, da sie wissen, dass sie am Abend wieder Zeit haben, um durch eines der Bücher in eine fremde Welt abtauchen zu können. Auch die Existenz der kleinen Schneiderin macht für die beiden das Leben wieder lebenswert und sie denken eigentlich kaum noch daran, dass sie wenig Chance auf eine Heimkehr haben. Und nicht nur Luo und sein Freund werden durch die Romane bewegt. Vor allem die kleine Schneiderin verändert sich aufgrund der Literatur und erkennt endlich den wahren Wert des Lebens.
 Auch wenn das traurige Schicksal zweier junger Menschen im Mittelpunkt steht, deren Entwicklungsmöglichkeiten brutal unterbrochen werden, ist die  eigentliche Botschaft des Romans die Tatsache, dass die Diktatur Gefühle, Bedürfnisse und Sehnsüchte der Menschen nicht kontrollieren kann. Obwohl die Burschen wissen, dass es ihnen eigentlich nicht erlaubt ist, diese verbotenen Bücher zu lesen, ist ihre Begierde danach größer als die Erkenntnis, dass sie, wenn ihr vergehen entdeckt wird, wohl nie wieder nach Hause zurückkehren werden.

Wirkung auf den Leser:

Dadurch, dass der Roman in der ersten Person verfasst wurde, ist es für den Leser ein Leichtes, sich in die Hauptperson einzufühlen und dessen Gedanken und Empfindungen besser verstehen zu können. Der Leser hat wirklich das Gefühl, mitten im Geschehen zu sein und alles hautnah mitzuerleben. Dai Sijie will seinen Lesern auf der ganzen Welt, der Roman wurde schließlich in viele Sprachen übersetzt, ein Bild von dem China während der Regierungszeit von Mao Zedong zeigen und wie sehr die „Intellektuellen“, und somit auch er, in der Umerziehung zu leiden hatten und das viele junge Männer niemals aus diesen abgelegenen Bergdörfern zurückkehrten. Und dies gelingt ihm ohne weiteres, denn durch die Schilderungen des Lebensstandards und den armseligen Blockhütten, in denen die jungen Burschen wohnten, kann man sich gut vorstellen, wie es sich damals dort zugetragen hat. Vor allem die Beschreibung der schweren Arbeit in dem Stollen und auf dem Feld beweist, dass zur Umerziehung wirklich harte Maßnahmen ergriffen wurden.
er Autor entführt seinen Leser gleich in mehrfacher Hinsicht in verschiedene Welten: zum einen in die Welt eines von der Zivilisation abgeschnittenen chinesischen Bergdorfs und zum anderen in die Welt der französischen Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts. Mit den eindrucksvollen Bildern einer atemberaubenden Landschaft und einer fast unbeschreiblichen sprachlichen Leichtigkeit entführt Dai Sijie den Zuschauer immer tiefer in ein China, von dessen Existenz man bis zu diesem Zeitpunkt nicht viel oder vielleicht auch gar nichts wusste.

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