James Joyce wurde 1882 in Dublin geboren und in den besten Jesuitenschulen Irlands erzogen. Er lehnte sich bald gegen den Kirchenzwang auf und studierte von 1898 bis 1902 Philosophie und Sprachen am University College in Dublin. Noch als Student veröffentlichte er kritische Schriften, die Ibsens Bedeutung aufzeigten und sich gegen die nationale Einengung des irischen Theaters richteten. 1902 ging er nach Paris in der ursprünglichen, aber bald aufgegebenen Absicht, Medizin zu studieren. Für kurze Zeit war er Lehrer an einer Privatschule in Dalkey bei Dublin, verließ aber im Herbst 1904 endgültig seine Heimat und lebte seitdem in freiwilliger Verbannung in Pola, Triest, Rom, Zürich und Paris und auf Reisen. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich bis zum Ende des Ersten Weltkriegs vor allem als Sprachlehrer an Berlitz-Schulen und durch Privatstunden. Durch Vermittlung von Freunden wie Ezra Pound, der auch die Veröffentlichung von “A Portrait of the Artist as a Young Man” gefördert hatte, erhielt er Zuwendungen und vor allem die großzügige Unterstützung von Harriet Shaw Weaver, die es ihm erlaubten, sich ganz der Schriftstellerei zu widmen. Bekannt wurde er durch die Veröffentlichung von “Ulysses” in Paris 1922. Joyce, in den dreißiger Jahren zeitweilig fast erblindet, starb entkräftet 1941 in Zürich.
- Chamber Music (Kammermusik, Gedichte, 1907)
- Dubliners (Dubliner, Novellen, 1914)
- A Portrait of the Artist as a Young Man
- (Ein Porträt des Künstlers als junger Mann, autobiographischer Roman, 1916)
- Ulysses (1922, dt. 1927)
- Exiles (Verbannte, Schauspiel, 1918)
- Finnegan’s Wake (1939)
Der Roman ist in achtzehn Episoden gegliedert. Hauptperson der ersten drei ist Stephen Dedalus, der aus dem Pariser Exil, wo er sein Medizinstudium abgebrochen hat, nach Irland zurückgekehrte Künstler. In der ersten Episode, Telemachus genannt (weil Stephen wie Telemachos, Odysseus’ Sohn, auf der Suche nach einem Vater ist), frühstückt Stephen zusammen mit seinem Medizinerfreund Buck Mulligan und dem Oxfordstudenten Haines in seiner Wohnung im Martello Tower, einem alten Befestigungsturm an der Dubliner Bucht. Eine Stunde später ist Stephen (in der zweiten, der Nestor-Episode) als Lehrer an der Schule Mr. Deasys tätig, der ihm – ein Nestor der Moderne – Ratschläge und Prophezeiungen mit auf den Weg gibt, antisemitische Expektorationen und außerdem einen Brief betreffend die Behandlung der Maul- und Klauenseuche, den Stephen später in der Zeitung, für die Bloom arbeitet, unterzubringen versucht. Nach der Schule geht Stephen am Strand spazieren, führt in Gedanken Selbstgespräche, erinnert sich an die Monate in Paris, an die Rückkehr nach Dublin kurz vor dem Tod seiner Mutter, der er in kaltem Stolz die Erfüllung ihrer letzten Bitte, er möge an ihrem Sterbelager beten, verweigert hat.
Stoff
(Quellen zu diesem Abschnitt vor allem: Richard Ellmanns Joyce-Biographie und C. Giedion-Welckers “Einführung zu James Joyces: Ulysses”)
Schon der zwölfjährige James Joyce hatte Odysseus zu seinem Lieblingshelden erkoren. Er erschien ihm als der menschlichste unter den prominenten Gestalten der Antike und später, als sein Blick sich erweitert hatte, als die humanste Gestalt in der gesamten Weltliteratur. Der einzige Mann auf Hellas, der gegen den Krieg auftrat, der die List, die geistige Konstruktion, der Schlacht vorzog, der mit Phantasie, Klugheit und humorvoller Schlauheit viele Irrfahrten bestand. “Ulysses”, ein grundsätzlich unkriegerischer Mann, jedoch ein tapferer Wanderer durch die Elementarkräfte der Natur, durch die glückhaften und fatalen Begegnungen mit der Menschheit. Und nun setzt auf der Höhe des eigenen Lebens das dichterische Werk ein: seine moderne Odyssee. Biographisch liegen zwischen Stephen Dedalus am Ende von “Ein Porträt des Künstlers als junger Mann” und der Morgenstunde im Martello-Turm zu Beginn des “Ulysses” zwei Jahre verzweifelten und bitteren Lebenskampfes, auch im Sinne des Durchringens zu eigener Berufung. “Wie bei Klee war die Wahl nicht einfach: tiefe Verbundenheit mit der Musik und große Könnerschaft (hier eine vollendete Tenorstimme, bei Klee ein meisterhaftes Violinspiel) sind zunächst beinahe ebenso stark wie der Drang nach persönlicher künstlerischer Entfaltung. Wie Klee wählt Joyce das Ausdrucksmittel, durch das er sich am selbständigsten zu äußern hofft.
Neben der Benutzung der “Odyssee” als Beziehungshintergrund verwendet Joyce ein Exemplar der Dubliner Tageszeitung “Evening Telegraph” von Donnerstag, dem 16. Juni 1904, das an jenem Tag unter anderem über das Pferderennen um den Goldpokal von Ascot, ein schreckliches Unglück in Amerika (der Ausflugsdampfer General Slocum brannte aus) und ein Autorennen um den Gordon-Bennet-Preis in Homburg berichtete. Das Dublin, in dem “Ulysses” spielt, lebt teils von Erinnerungen des Autors an seine Heimat, zum größten Teil aber von “Thom’s Dublin Post Office Directory”, einem Adreßbuch.
Das Buch stellt Begebenheiten eines einzigen Tages (16. Juni 1904) in Dublin dar, die von drei Personen – Stephen Dedalus, Leopold Bloom und seiner Frau Molly – erlebt werden.
“Ulysses” besitzt einen gewaltigen Motivreichtum, von durchgehenden Leitmotiven, wie Geburt, Tod, Liebe, Sexualität, Ehe, Freundschaft, Vater- und Mutterschaft usw., bis etwa hin zu den immer wieder auftauchenden Gewissensbissen von Stephen Dedalus, die von seiner Weigerung, am Sterbebett seiner Mutter zu beten ausgehen (vgl. dazu “Stoff”). Ich greife also nur einige Motive heraus.
Die Odyssee als Leitmotiv und das Stuart-Gilbert-Schema
Jedem Kapitel ist eine Episode aus der homerischen “Odyssee” zugeordnet. Diese wird in eine Handlungsepisode des Romans übersetzt, wobei der Zusammenhang nur über eine komplexe und meist sehr ironische Analogie zu erschließen ist.
Jede Episode erhält außerdem einen symbolisch-allegorischen Schauplatz und als Handlungszeit eine genau angegebene Stunde besagten Tages. Des weiteren wird jeder Episode eine bestimmte Kunst (bzw. Wissenschaft), ein zentrales Symbol und eine bestimmte “Technik” zugewiesen. Fünfzehn Episoden erhalten als weitere symbolische Ausstattung ein Organ des menschlichen Körpers und acht werden von einer bestimmten Farbe dominiert. Wollte man nun versuchen, die Ausfüllung dieses Schemas nun im einzelnen darzustellen, so würde sich daraus ein Buch von etlichen hundert Seiten ergeben (was etwa Stuart Gilbert in “James Joyces Ulysses” gezeigt hat).
Unscheinbare Güte überwindet in “Ulysses” die gewissenlose Gewalt. Stephens Vorwurf gegen Mulligan ist dessen Brutalität und Grausamkeit, Mollys Klage gegen Boylan richtet sich wiederum gegen die Brutalität, gegen die animalische Sinnlichkeit ohne Gefühl. Bloom ist es vorbehalten, dieses Thema des Buches zu formulieren, wenn auch unter komischen Umständen, als er die Liebe vor dem Cyklopen verteidigt und sie bescheiden, aber treffend als “das Gegenteil von Haß” definiert. So beschließt Molly den Tag, treu wider Willen, indem sie sich nochmals ihrem Gatten hingibt und Boylan als belanglos beiseite schiebt. In Joyces Werk trägt die Seele den Sieg davon.
“Ein Vater, sagte Stephen, […] ist ein notwendiges Übel.”
Damit meint Stephen jedoch den leiblichen Vater und ist selbst ständig auf der Suche nach einem geistigen, den er schließlich in Bloom findet. In dieser Vater-Sohn-Verbindung geht es um eine symbolische Durchdringung von konkreter Realität und abstrakter geistiger Sublimierung – Bloom ist ein schützender Helfer und Versteher im praktischen Leben, aber am Schluß des Buches entschwindet der einsame Künstler und Denker Stephen aus seiner Atmosphäre.
“Put allspace in a notshall” (nutshell)
(etwa: “Steck’ den Allraum in eine Nußschale”)
“Stephen Dedalus
Elementarklasse
Clongowes Wood College
Sallins
County Kildare
Irland
Europa
Welt
Universum”
“In diesem scheinbar belanglosen Eintrag, der in der rückblickenden Betrachtung eigener, zwanzigjähriger Entwicklung wie ein kleiner Kristall aus der Frühzeit zutage gefördert wird, liegt schon jene Konzentration und gleichzeitig jener Erweiterungsdrang, der einen eingenommenen Standpunkt exzentrisch ausstrahlen läßt und in immer erweiterte Beziehung setzt. Eine Methode, die im ‘Ulysses’ und im Spätwerk, ‘Finnegans Wake’, zur dominierenden wird. ‘Put allspace in a notshall.’ […] Im ‘Ulysses’ wird dieses Prinzip immer wieder, am hellen Tag und in torkelnder nächtlicher Trunkenheit, rational und in irrationaler Phantastik ausgespielt, während im Spätwerk Kleinstes und Größtes, Kosmisches und Menschliches in engster Verwobenheit aus traumhaft-dämmerndem Halbschlaf herauftönt.” (Giedion-Welcker)
“Bewegung und Wanderung war von jeher leitmotivisch für Epos und Roman. Odysseus, Sindbad, Dante, Parzival, Pantagruel, Simplizissimus, Don Quixote, Wilhelm Meister, der Grüne Heinrich, sie alle wandern, das heißt, sie durchmessen Raum und Zeit, sie schreiten durch die Welt und durch sich selbst. Mr. Bloom, die Hauptfigur dieses modernen Epos, schreitet während eines einzigen Tages und taumelt während einer Nacht durch Dublin, durch einen begrenzten Raum, aber dennoch durch ein enorm komplexes modernes Labyrinth. Die extensive Zeit des traditionellen Romans schrumpft hier in eine intensive von neunzehn Stunden zusammen. Aber dadurch, daß die weitschweifenden, assoziierenden Gedanken der Menschen eigentlich die Hauptakteure in diesem Buche sind, wird diese relativ kurze Zeit, dieser bedingte Zeitraum, tausendfältig erweitert und gefüllt. Erweitert durch die grenzenlose Spannkraft des Geistes, der hier Laut-Denkenden, der in alle Zeiten eindringt, von Gegenwart in Vergangenheit zurücksinkt und in die Zukunft hinausgreift.” (Giedion-Welcker)
Dublin
Die beschriebenen Tag- und Nachtwanderungen von Stephen und Bloom spielen sich fast ausschließlich im Raum einer Großstadt ab, in Dublin – nur kurz unterbrochen von landschaftlichen Abstechern. Joyce wählte die Stadt als Gehäuse und darüber hinaus als Schicksal moderner Kultur, als Rahmen heutiger menschlicher Aktivität. Jeder Kultur liegt die städtische Siedlung zugrunde als Beginn gemeinschaftlicher Ordnungsplanung gegenüber dem Chaos.
Die Städte, vor allem aber Dublin, waren für Joyce etwas Besonderes, von innen her Gesehenes. Sie erschienen ihm wie vielschichtige, pluralistische, aber durchaus individuelle Persönlichkeiten. Namen, Straßen, Firmenschilder, Häuser waren ihn in diesem Sinne aufschlußreich und lebendig. Man hat einmal scherzend bemerkt, daß, wenn Dublin zerstört würde, ein Wiederaufbau nach der exakten Topographie und den detaillierten Angaben des “Ulysses” unternommen werden könnte.
Es ist ein schmales Haus mit je zwei zur Straße gehenden Fenstern in den drei Stockwerken. Es steht mittlerweile nicht mehr, und 1904, zu der Zeit also, die Joyce etwa 15 Jahre später für seine Blooms wählt, stand das Haus leer. Die Blooms bewohnen zwei Räume im Erdgeschoß ihres gemieteten dreistöckigen Hauses. Die Küche liegt im Erdgeschoß, das Wohnzimmer zur Straße, und das Schlafzimmer nach hinten. Es gibt weder warmes Wasser noch ein Badezimmer, wohl aber eine Toilette auf dem Treppenabsatz und im Garten hinter dem Haus. Die beiden Stockwerke über den Räumen der Familie Bloom stehen leer und sind zu vermieten – die Blooms haben sogar im Erdgeschoß am Fensterrahmen zur Straßenseite hin eine Karte mit der Aufschrift “Unmöblierte Zimmer” angebracht.
Eine Angabe des Milieus, in dem der Roman spielt, wird spätestens ab dem Irrfelsen-Kapitel schwierig. Verschiedenste Personen treten auf, vom Vizekönig über einen Priester bis hin zur verarmten Familie Dedalus ist fast jede Gesellschaftsschicht mehr oder weniger stark vertreten.
“£ 5 Belohnung! Verloren gegangen, gestohlen worden oder entlaufen ist aus seiner Wohnung No. 7 Eccles Street ein Herr um die 40, hört auf den Namen Bloom, Leopold (Poldy), Größe 5 Fuß 9½ Zoll, volle Gestalt, olivengrüner Teint, hat sich inzwischen möglicherweise einen Bart wachsen lassen, trug, als er zuletzt gesehen wurde, einen schwarzen Anzug.”
“Und saget der wandeler Leopold daz […] er war ein man von huote und ein kluoc man.”
Bloom ist der Sohn eines ungarischen Juden namens Rudolph Virag (was im Ungarischen “Blume” bedeutet), der seinen Namen in Bloom änderte, und von Ellen Higgins, aus einer irisch-ungarischen Familie. Er wurde 1866 in Dublin geboren, ist also jetzt 38 Jahre alt. Zuerst hat er eine von einer gewissen Mrs. Ellis geleitete Schule besucht, dann ein Gymnasium, wo Mr. Vance einer seiner Lehrer war; er ging 1880 von der Schule ab. Weil ihm seine Neuralgie unerträglich ist und er sich nach dem Tode seiner Frau verlassen fühlt, nimmt Rudolph Bloom, Leopolds Vater, sich 1886 das Leben. Leopold lernt Brian Tweedys Tochter Molly bei einem Gesellschaftsspiel (Reise nach Jerusalem) in Mat Dillons Haus kennen, bei dem sie miteinander ausgelost werden. Sie heiraten am 8. Oktober 1888, er ist 22, sie 18 Jahre alt. Ihre Tochter Milly wird am 15. Juni 1889 und ihr Sohn Rudy 1894 geboren; er stirbt elf Tage nach der Geburt. Zuerst arbeitet Bloom als Schreibwarenvertreter für die Firma Wisdom Hely’s, später ist er eine Weile Aufseher für eine Viehhändlerfirma. Die Blooms wohnen von 1888 bis 1893 in der Lombard Street und von 1893 bis 1895 in Raymond Terrace, sie ziehen, nachdem sie eine Weile im City Arms Hotel gewohnt haben, 1895 in die Ontario Terrace und von dort 1897 in die Holles Street. Im Jahre 1904 wohnen sie in der Eccles Street 7. Leopold ist jetzt als Annoncenacquisiteur an einer Dubliner Zeitung selbständig, verdient dabei aber nicht besonders viel.
Da es über Bloom mehr zu sagen gäbe, als ich in diesem Rahmen ausführen kann (wie auch das folgende Zitat beweisen dürfte), greife ich nur einige Aspekte heraus.
“Mr. Bloom […] wird während neunzehn Stunden […] in denen er agierend, laut denkend oder mit seinen Mitmenschen verhandelnd an uns vorbeizieht, psychisch und physisch in einer Weise beleuchtet und durchröntgt, daß nicht nur seine unbedeutendsten Taten, sondern vor allem sein innerstes Wesen bis in letzte Einzelheiten vor uns ausgebreitet werden.” (Giedion-Welcker)
“Seit der Veröffentlichung des Ulysses 1922 wurde Bloom […] das Opfer von Klischees. Man nennt ihn ‘den kleinen Mann’, obwohl er mit fünf Fuß neuneinhalb Zoll (1,75m), wie es sich für Odysseus gehört, größer als der durchschnittliche Dubliner ist. Auch trägt er keine anonymen Gesichtszüge: ‘weil er ja sehr hübsch war’, erinnert sich Molly an ihre Verlobungszeit, und ‘seine Zähne die warn klasse ich hab richtig Hunger gekriegt von wie ich sie ansah’. Dazu ist er auf unauffällige Weise geistreich, und wenn er nicht, wie am Bloomstag, mit unerträglichen Sorgen belastet ist, kann er, was in Dublin viel gilt, ein schlagfertiger Mann sein.”
“Am allerwenigsten ist er, wofür er leicht gehalten werden kann, der vom Schicksal Übersehene ohne wirtschaftliche Absicherung, der auf Sand baut. Zu einer Zeit, da, wie uns Sean O’Faoloin in Vive Moi! erzählt, ein Polizist in Cork eine Familie mit einem Pfund pro Woche unterhielt, hat Bloom Einnahmen von fünf Guineen unmittelbar zu erwarten, dazu Bargeld auf der Bank, das sechs Monatsgehälter von Stephen ausmacht, und darüber hinaus könnte er die meisten Leute, mit denen er am Bloomsday zu tun hat, in die Tasche stecken, würde er seine Versicherungen und Wertpapiere liquidieren, die insgesamt fast 1500 Pfund ausmachen. Irland, bekräftigt er, ist seine Heimat, aber er ist nicht irisch genug, um sein bescheidenes Einkommen zu vertrinken.”
Über Blooms Ähnlichkeiten mit dem homerischen Odysseus schreibt Hugh Kenner: “Statur, relativer Wohlstand, ein hochgelegener Wohnort, männlich schöne Züge, polysemer Witz, eine bekanntermaßen schöne Frau: Man könnte, wenn auch irreführenderweise, sagen, daß Bloom die hervorstechenden Eigenschaften seines Urbildes, des homerischen Stammesfürsten, besitzt. […] Ulysses will uns beim ersten Auftreten Blooms glauben machen, daß ein alltäglicher Mann seiner Frau das Frühstück bereitet, und wird später diesen Eindruck von Normalität so unmerklich modifizieren, daß wir außerordentliche Aufmerksamkeit mit verschiedenem zusätzlichem Wissen vereinen müssen, wie der Lage der Eccles Street, der Körpergröße der Iren, dem Wert des Pfundes zur Jahrhundertwende, um überhaupt etwas Außergewöhnliches wahrzunehmen. Joyce ist so listig wie sein mythischer Held, dessen übliche Strategie es war, seine Identität zu verbergen.”
Marion (Molly) Bloom
Molly Bloom wurde am 8. September 1870 geboren und stammt väterlicherseits von irischen und mütterlicherseits von spanischen und jüdischen Vorfahren. Sie ist Kunstsängerin.
“Joyce schreibt seiner Heldin den Charakter einer Frau zu, wie ihn Nora [seine Frau] ihm gezeigt hat, und nicht den Charakter […] eines verantwortungslosen, leidenschaftlichen, romantischen Geschöpfs.” Er sagte auch, Molly sollte das “vollkommen gesunde, volle amoralische befruchtbare unzuverlässige fesselnde gerissene beschränkte vorsichtige gleichgültige Weib” darstellen.
“Abgesehen von ihren Urbildern, ist Molly eine Frau, die viel mißverstanden worden ist. Der berühmte Monolog, worin ‘das Fleisch zum Worte’ wird, verdient seinen Ruf als Gipfelpunkt der Promiskuität nicht, noch paßt auf ihn die Beschreibung, wie sie der Schriftsteller Frank O’Connor gibt, als Gipfel der grausamen, unfairen und antiweiblichen Sezierung. Wäre Molly wirklich ‘zwanglos’ in ihrem Geschlechtsverkehr, so hätte sie Joyce nicht zu seiner Heldin gemacht, denn er brauchte eine durchschnittliche Frau […]. Es ist zwar richtig, daß Bloom, und mit ihm spätere Kritiker, nicht weniger als fünfundzwanzig Geliebte Mollys aufzählen, doch bei näherer Prüfung enthält die Liste einige ausgefallene Namen: Da finden sich zwei Priester, ein Oberbürgermeister, ein Ratsherr, ein Gynäkologe, ein Stiefelputzer, ein Professor. Das Buch macht deutlich, daß sie bei den Priestern gebeichtet hat, den Gynäkologen konsultierte und mit den übrigen kokettierte. […]
Die beiden Liebhaber, die Molly seit ihrer Heirat hatte, sind Bartell d’Arcy und Boylan. […] Wenn man auch den Ehebruch nicht durch seine geringe Häufigkeit entschuldigen kann, so ist doch ihr Benehmen angesichts der Tatsache, daß ihr Gatte während elf Jahren […] mit ihr keine angemessenen sexuellen Beziehungen unterhielt, nicht ganz unverständlich.”
Stephen Dedalus (und seine Beziehung zu Leopold Bloom)
“Wer das wohl sein mag? fragte er. Da können Sie noch fragen?
Stephen, der jugendliche Barde!”
Stephen Dedalus ist die Hauptperson in “Ein Porträt des Künstlers als junger Mann”, worin seine Persönlichkeitsentwicklung fast zeitlupenhaft geschildert wird. Die Ähnlichkeiten zwischen Joyce selbst und seiner Figur Dedalus sind nicht zu übersehen, nicht umsonst nennt man das Porträt einen autobiographischen Roman.
Stephen wird Leopold Bloom (der gewissermaßen den standardisierten, sozial eingegliederten Großstadttypus repräsentiert) als über seine Umgebung emporragender Individualist gegenübergestellt. Mit vielen autoporträtierten Zügen von Joyce ausgestattet, wird er sowohl in angleichende wie kontrapunktische Beziehung zu Bloom gebracht. Er schreitet nicht, wie dieser, in agiler Geschäftigkeit und Neugier durch das Leben, sondern als geistiger Experimentator, traditionsbewußt auf alten Wegen wandernd und angetrieben von einer inneren Leidenschaft, neue zu erforschen. Gleichzeitig ist er auf der Suche nach seinem geistigen Vater. Stephens Suchen vollzieht sich nicht zielbewußt, sondern wird durch viele unterirdische, scheinbar zufällige Fäden gelenkt, die ihn durch sein Labyrinth führen, wobei schließlich die beiden scheinbar völlig entgegengesetzten Typen (Jedermann-Figur Bloom und Künstlergestalt Dedalus) langsam miteinander verknüpft werden: zwei Menschen, die bei aller geistigen Niveaudifferenz dennoch häufig gemeinsame Reaktionen offenbaren. Ihr erstes Zusammentreffen ist unbedeutend, beinahe schattenhaft, nur eine flüchtige Begrüßung.
“Wir schreiten durch uns selbst dahin, Räubern begegnend, Geistern, Riesen, alten Männern, jungen Männern, Weibern, Witwen, warmen Brüdern. Doch immer imgrunde uns selbst.”
Erzählform – Erzählperspektive
Eine gewöhnliche Angabe der Erzählform ist hier nicht möglich, denn Joyce benutzt “alle Erzähltechniken, die ihm zur Verfügung stehen, und erfindet noch eine Reihe neuer hinzu. Einheitliches Erzählen gibt es in diesem Werk nicht.” Der objektive Erzähler wechselt immer wieder mit dem subjektiven oder dem Ich-Erzähler – die Perspektive, aus der erzählt wird, verändert sich ständig. Schon rein äußerlich weicht die Form von der einer Prosaerzählung ab. Der Roman nimmt u.a. die Form einer Zeitung oder eines Dramas an, es finden sich Verse in ihm, Kataloge, Buchlisten, auch Noten und eine Opernouvertüre. Es gibt im englischen Original auch Schilderungen im genau nachgeahmten Stil früherer Dichter (Swift, Dickens, …).
Daß Joyce die Form der jeweiligen Abschnitte nicht beliebig wählt, ist klar. Ich möchte als Beispiel nur die beiden letzten Episoden heranziehen, in denen Bloom und seine Frau Molly archetypisch als das männliche und weibliche Prinzip kontrastiert werden. Das Bloom gewidmete Ithaka-Kapitel ist in der Form eines Katechismus geschrieben, bei dem alles in ein Frage-Antwort-Schema aufgelöst wird – dies soll die männliche, wissenschaftlich-dialektische Denkweise zum Ausdruck bringen. Dem wird im Schlußkapitel das Prinzip des Weiblichen gegenübergestellt. In einem langen inneren Monolog, der ohne jegliche Interpunktion durch das Bewußtsein Molly Blooms flutet, werden deren Erinnerungen, Gefühle und Assoziationen ausgedrückt, die ohne raumzeitliche Koordinaten in einem irrationalen Bewußtseinsstrom dahinfließen.
Einem Zufall ist es zu verdanken, daß ich verschiedene Übersetzungen vergleichen konnte. In einer älteren Ausgabe von 1966 wurde noch weitaus weniger auf die Form des Originals geachtet, als in einer Übersetzung von 1996. In letzterer wurden etwa altenglische Passagen ins Althochdeutsche übertragen, während man früher lediglich einen “altertümlich” klingenden Ton und eine etwas eigentümliche Satzzeichensetzung wählte.
Als kurzes Beispiel zwei Übersetzungen der gleichen Textstelle:
1996 (von Hans Wollschläger): “Ein ligestat von maneger wevrowen hande sorgen vn heilzam ezzen geruochliche vn windelen rinecliche alz wan die gebvrt iez wær beschehen vnde von vorsiht wisliche volendet…”
1966 (von Georg Goyert): “Ein Lager mit wartenden Hebammen gesunde Nahrung reinste Windeln als wenn die Geburt jetzt schon geschehen wäre und alles in weiser Voraussicht bereitet…”