Siegfried Lenz wurde am 17.03.1926 in Lyck (Oberpreußen) geboren. Als Dreizehnjähriger wird er in die Hitlerjugend aufgenommen und in Wehrertüchtigungs-
lagern ausgebildet. Mit 17 Jahren (1943) erläßt man dem jungen Lenz das Abitur; er wird zur Marine eingezogen; nach viermonatiger Ausbildung erstes Bordkommando auf der “Admiral Scheer”. Das Schiff wird versenkt, Lenz kann sich retten und wird zur weiteren Ausbildung nach Dänemark gebracht. Er desertiert, wird verfolgt, kann sich aber unerkannt durchbringen und gerät 1945 in englische Gefangenschaft. Dort wird er bald Dolmetscher einer amtlichen Entlassungskommission. Noch 1945 entläßt man ihn nach Hamburg, wo er Philosophie, Anglistik und Literaturwissenschaft studiert. Mit Schwarzhandel bringt er sich durch. Schon während seines Studiums arbeitet Lenz für die “Welt”, wird Nachrichten-, dann Feuilletonredakteur.
Siegfried Lenz arbeitet als Essayist und Kritiker für den Funk und mehrere Zeitungen. Er lebt seit 1951 in Hamburg und auf der dänischen Insel Alsen.
- Es waren Habichte in der Luft (1951), Roman
- Duell mit dem Schatten (1953), Roman
- So zärtlich war Suleyken (1955), Masurische Geschichten
- Der Mann im Strom (1957), Roman
- Jäger des Spotts (1958), Erzählung
- Brot und Spiele (1959), Roman
- Das Feuerschiff (1960), Erzählungen
- Stimmungen der See (1962), Erzählungen
- Der Spielverderber (1965)
- Das Vorbild (1973)
- Der Geist der Mirabelle (1975)
- Einstein überquert die Elbe bei Hamburg (1975)
- Heimatmuseum (1978)
- Der Verlust (1981)
Siegfried Lenz ist einer der profiliertesten deutschen Autoren der Nachkriegszeit.
In dem 1968 erschienenen Roman Deutschstunde, einem der größten belletristischen Bucherfolge nach 1945, durch die Fernsehverfilmung (1972) einem Millionenpublikum bekannt geworden, haben die ethische Intention und die erzählerische Gestalt ihren bisher gültigsten Ausdruck im Romanschaffen von Siegfried Lenz gefunden.
Art des Werkes
Roman: literarisches Werk erzählender Dichtung in Prosa, in dem oft das Schicksal, von Menschen in der Auseinandersetzung mit der Umwelt oder der Gesellschaft geschildert wird.
Ort und Zeit des Geschehens
Der ausgedehnten Erzählzeit steht ein begrenzter Erzählort gegenüber, extrem eingeengt durch die Situation auf der Insel, auf der sich die Anstalt befindet, und durch die eigentliche Schreibsituation in einem meist abgeschlossenem Zimmer. Raumwechsel findet nur in der Erzählvergangenheit statt, während die Erzählgegen-
wart auf kleinsten Raum beschränkt bleibt.
Der beherrschende Schauplatz des erinnerten Geschehens ist Rugbüll. Er ist Brutstätte und Lebensraum des zutiefst provinziellen Nationalsozialismus. In bedrängender Anschaulichkeit, trotz zum Teil erfundener Ortsnamen leicht identifizierbar, gewinnt die Region im Norden Deutschlands Gestalt mit ihren Stränden, Deichen und Warften. Nordfriesland dient dem Erzähler als Modell für akut verengtes Leben.
Die Erinnerungsarbeit ist ein schöpferischer Prozeß, der das Vergangene nachschafft, mit dem Ziel, die Gegenwart zu verstehen und sich in ihr zurechtzufinden. Aus den Fragen an das Gestern entwickeln sich Antworten für das Morgen. Es geht darum das Weiterleben durch erzählende Bewältigung des Vergangenen lebenswert zu machen. In der Zeitstruktur spiegelt sich auch die Orientierungsproblematik nach 1945.
Aufbau
Die Situation in der Anstalt bildet den Erzählrahmen, auf den im Laufe des Erinnerungsprozesses wiederholt zurückgeblendet wird. Von ihr nimmt die Roman-
handlung ihren Ausgang, die schließlich, weitgehend linear aufgebaut, zum Anfang zurückkehrt.
Das Ganze wird in der Ich-Form erzählt.
Hauptgestalt des Romans ist der Junge Siggi Jepsen, der in der Jugendstrafanstalt auf der Elbeinsel bei Hamburg von seinem Lehrer und Jugenpsychologen dazu veranlaßt wird, in einer nachgeholten Strafarbeit mit dem Titel “Die Freuden der Pflicht” sich die Erinnerungen an die NS-Zeit von der Seele zu schreiben. Er erinnert sich auch an den Konflikt zwischen seinem Vater, Jens Ole Jepsen, und dem Maler, Max Ludwig Nansen. Von den damaligen Machthabern wird im Zuge der Kampagne gegen Entartete Kunst ein Malverbot verhängt. Siggis Vater, Rugbüller Polizeiposten und Pflichtmensch, versucht mit bornierter Amtsautorität dieses in Berlin gegen Nansen erlassene Malverbot durchzusetzen.
Der alte Jepsen observiert den Künstler und zerstört auch einen Teil seiner Werke. Er will Siggi zu seinem Spießgesellen machen, doch dieser wird Freund und Verbündeter des Malers und rettet einige seiner Bilder vor dem Zugriff des Polizisten-Vaters.
Der die Familie zerstörende Zwangscharakter des alten Jepsens überdauert noch den Umschwung nach 1945. Obwohl das Malverbot längst aufgehoben ist, verfolgt Ole Jepsen den Maler in seiner wahnhaften Verbitterung weiter. Er fühlt sich unbeirrt in seiner alten Amtspflicht.
So füllt Siggi Heft für Heft mit seinen Aufzeichnungen, nur manchmal unterbricht der junge Schreiber die Geschichte seiner Jugend in Rugbüll, um ein paar Neuigkeiten aus seinem gegenwärtigen Sträflingsleben einzuflechten.
Charaktere
a) Siggi Jepsen
Siggi Jepsen, 1933 im Jahr der Machtergreifung durch die Nazis geboren, erzählt seine eigene Geschichte. Er wird in Begegnungen und Erlebnissen, mitunter aus Verstecken, durch Fenster und Schlüssellöcher zum Beobachter und Zeugen seiner Zeit, die er von seinem 10. Lebensjahr an intensiv erlebt und die er kurz vor seinem 21. Geburtstag erinnert und zu begreifen beginnt. In der Strafarbeit behandelt er das gestellte Thema im Rückblick auf Selbsterlebtes, indem er nicht die Freuden, sondern die Leiden und Opfer der Pflicht darstellt. Erst jetzt überwindet er die Zwangsneurose, ständig angeblich gefährdete Bilder in Sicherheit bringen zu müssen. Die Mühle, die er seinerzeit als Versteck gewählt hatte, ist längst abgebrannt. Es ist ihm auferlegt die damals verbrannten Bilder als deren Sinndeutung nachzuschaffen. In dem Maße, wie ihm dies gelingt, befreit er sich von den Obsessionen des Vergangenen, indem er persönlich durchdringt. Reif wird Siggi, als er beginnt die passive Rolle des Danebenstehenden aufzugeben. Ausdrücklich erkennt der Anstaltswärter Joswig die vollzogene Reifung an.
[ Er legte mir die Hand auf die Schulter, tätschelte meine Schulter mit nachsichtiger Anerkennung und sagte:”An deinen Worten merkt man, daß du volljährig geworden bist.” Er gab mir offiziell Raucherlaubnis für den Rest des Tages, knuffte mich zum Abschied leicht am Hinterkopf.]
Am Ende wird Siggi aus dem abgeschlossenem Erinnerungsraum, in dem er sich in sich selbst versenkte, entlassen.
b) Polizeiposten Jepsen
Er ist der uniformierte Staatsbürger, pflichtbewußt, gehorsam bis zur Selbstaufgabe, loyal bis zur Menschenverachtung. Befehl ist für ihn Befehl.
[ “Ich tu nur meine Pflicht.”] ist der Leitsatz seines Handelns.
[…ich frage nicht, was einer gewinnt dabei, wenn einer seine Pflicht tut, ob es einem nützt oder so. Wo kämen wir hin, wenn wir uns bei allem fragten: und was kommt danach? Seine Pflicht, die kann man doch nicht nach Laune tun…]
Über Generationen eingeschliffen, ist das preußische Vermächtnis, aufopferungsvoll seine Pflicht zu tun, zum Kadavergehorsam verkommen, der den unaufhaltsamen Anstieg des deutschen Faschismus erst ermöglichte. Vielsagend heißt es: [ Die Hände meines Vaters hingen schlaff und bereit an der Hosennaht, zwei gehorsame Wesen.]
Für den Polizeiposten ist das verhängte Malverbot unumstößliches Gesetz, dessen Einhaltung er, ungeachtet persönlicher Beziehungen, zu überwachen hat. Ein eigenes Urteil ist im Dienstreglement nicht vorgesehen. Die eingebleute Pflichtausübung überdauert noch den Zusammenbruch des Faschismus. Auch nach 1945 fährt der Polizeiposten fort, den Bildern nachzustellen.
Der Polizeiposten ist der Typus des deutschen Kleinbürgers mit dem starken Bedürfnis, seine Leitbilder in einer Sphäre zu suchen, die seine eigene enge Welt übersteigen.
c) Der Maler
Er ist der Gegenspieler des Polizeiposten. Der Maler wohnt draußen auf Bleekenwarf. Schon der abseits gelegene Ort enthebt den genialen Künstler allem Provinziellen.
Deutlich erkennbar ist in der fiktiven Gestalt der 1867 im nordschleswigschen Nolde als Hansen geborene Emil Nolde, der expressionistische Maler, der in Paris, München und Berlin als bedeutender Künstler hervorgetreten und anerkannt war, 1913 eine Reise nach Neu-Guinea unternommen hatte und sich 1927 mit seiner Frau in Seebüll ansiedelte, wo er auf der leeren Warft ein Haus baute. Im Jahr 1914 erhielt er Berufsverbot. Zugleich wurden 54 eingesandte Bilder beschlagnahmt. Nolde galt fortan als entartet. Während des allerdings sehr großzügig überwachten Malverbots entstanden Aquarelle auf Japanpapier. Nolde starb 1956.
Die beiden Vornamen im Roman verweisen auf die Maler Max Beckmann und auf Ernst Ludwig Kirchner. Die Anspielung auf die beiden herausragenden Expressionisten hebt die allgemeine Situation der Kunst im Faschismus um so deutlicher hervor.
Nansen setzt gegen den blinden staatsbürgerlichen Gehorsam das eigene kritische Urteil: [ …es kotzt mich an, wenn ihr von Pflicht redet. Wenn ihr von Pflicht redet, müssen sich andere auf was gefaßt machen.]
[…wenn du glaubst, daß man seine Pflicht tun muß, dann sage ich dir das Gegenteil: man muß etwas tun, das gegen die Pflicht verstößt. Pflicht, das ist für mich nur blinde Anmaßung.]
Allein entscheidend ist das Gewissen des einzelnen für sein Tun. Wahre Pflicht ist der innere Auftrag, seiner Bestimmung treu zu bleiben, weiterzumalen trotz des Malverbots. Jede Abweichung bedeutet Verrat am eigenen Selbst. In seiner Kunst wie in seinem Handeln im Alltag dient Nansen dem Leben. Er war es, der seinen Jugendfreund Jens Ole Jepsen vor dem Ertrinken rettete, er ist es auch, der dessen desertierten Sohn Klaas vorübergehend bei sich aufnimmt.
Gehalt
Die Deutschstunde ist eigentlich ein moderner Bildungsroman, der jedoch weniger auf der geschichtlich-gesellschaftlichen Ebene als vielmehr auf der Ebene des wider-
spiegelnden und verarbeitenden Einzelbewußtseins spielt. Die Geschichte hat den einzelnen an sich selbst zurückverwiesen. Nur von ihm, von seiner Bereitschaft zu kritischer Wachsamkeit, kann eine humane Zukunft ihren Ausgang nehmen.
Zugleich ist die Deutschstunde aber auch ein Zeitroman, der einen repräsentativen, subjektiv vermittelten Querschnitt durch eine Geschichtsphase heilloser Verstrickungen gibt. Die kritischen Geschichtsbefunde erhalten ihren Wert in Bezug auf das Subjekt, das sich erinnernd zu verstehen beginnt.
In der Struktur des Romans spiegelt sich der verhaltene Optimismus des humanen Realisten, der den Menschen wieder eine Chance gibt, wenn sie aufhören an Ideale und Programme zu glauben, wenn sie den Pedanten der Pflicht ebenso mißtrauen, wie den Besserwissern und offen werden für die Mitgestaltung einer Welt, in der alle in Freiheit und Frieden leben können. Eine solche Offenheit erfordert nie ermüdende Wachsamkeit und den Widerstand jedes einzelnen gegen die Mächtigen.
Lenz deckt darüber hinaus die Wurzeln des Nationalsozialismus auf, der nur auf einer Basis einer sklavisch ergebenen Führergefolgschaft gedeihen konnte. In der Familie wird das als negativ angesehen, was als negativ von oben verordnet ist. Das Fremde wie das Kranke widersprechen gleichermaßen dem auserwählten gesunden deutschen Volkstum, dem anzugehören sich der Kleinbürger schmeicheln darf. Völlig einig weiß sich das Ehepaar Jepsen gegen alles Fremdländische und Zigeunerhafte, im Haß gegen das, was der Führer als unwertes Leben verworfen hat.
[ Wir wollten weggehen und sahen im Weggehen Hilde Isenbüttel über den Bahnsteig laufen, dorthin, wo der Gepäckwagen gestanden hatte. Was war da? Was wollte sie? Das saß also ein Mann in Uniform auf der Erde, zu ihm lief sie. Der Mann saß neben einer flachen, Karre, mit Rädern. Er saß aufrecht. Ihm fehlten jedoch beide Beine. Der Mann war barhäuptig, er hatte aber noch ein junges Gesicht. Er sah ihr entgegen und packte sie fest am Oberarm, als sie sich vor ihn hinkniete. Das ist doch Albrecht, sagte der Maler, Albrecht Isenbüttel: er muß rausgekommen sein von da oben, von Leningrad. Die Frau befreite sich aus dem Griff des Mannes und umarmte ihn plötzlich. Dann stand sie auf und setzte ihn auf die Karre. Hilde Isenbüttel zog allein die Karre über den Bahnsteig und der Mann saß steif aufrecht…]
Eigene Meinung
Mir persönlich hat der Roman Deutschstunde sehr gut gefallen, weil er sich ausgezeichnet mit dem Faschismus und seinen Folgen auseinander gesetzt hat. Eine dieser Folgen, wie der Verlust des Menschseins, wurde ja immer deutlich betont.
Vor allem aber hat mich das Freund-Feind Schema, der Konflikt zwischen dem Maler und dem Polizeiposten, der immer nur an seine auferlegte Pflicht gedacht hat, fasziniert. Niemals hat er sich an die Freundschaft, die sie beide einmal verband, erinnert. Die Besessenheit, mit der er das Malverbot überwachte, war wirklich schon wahnsinnig. Und trotzdem war das Vertrauen des Malers auf das Leben unverwüstlich. Das hat mir sehr imponiert. Denn um sich dieser Beschränktheit und Borniertheit allein entgegenzustellen gehört sicher eine Menge Mut dazu.
Ich finde, daß dieses Buch dazu auffordert, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und Wege zu deren Bewältigung aufzeigt. Dieser Roman will Veränderungsbereitschaft in den Menschen hervorrufen und durch die Erinnerung zum Widerstand gegen das Regime auffordern.
Quellenverzeichnis:
- Deutschstunde (Siegfried Lenz, 1968)
- Deutsche Literaturgeschichte 2 (Wilhelm Bortenschlager)
- Geschichte der deutschen Literatur (Wilfried Barner)
- Kritisches Lexikon der Gegenwartsliteratur (Harro Zimmermann)