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Zu den die neunziger Jahre charakterisierenden Stichwörtern zählt auch der Begriff Globalisierung. Kaum ein Tag vergeht, an dem sich nicht eine Politikerrunde über die immer enger werdende Vernetzung rund um den Globus auslässt. Dabei wird die Konkurrenz in den räumlich zwar fernen, wirtschaftlich jedoch nahen Schwellenländern zumeist als Bedrohung des eigenen Lebensstandards empfunden. Mit vermeintlich ökonomischer Stringenz heißt es etwa in stilisierter Darstellung, das Kapital der Industrieländer fließe in die Dritte Welt, wo es dann, mit billigen Arbeitskräften kombiniert, zur Produktion von Konsum- und Industriegütern eingesetzt werde, die danach die Märkte der Industrieländer überschwemmen
Und täglich scheint es neue Evidenz zu geben. Da wird über Auslagerungen in Schwellenländer mit der Begründung berichtet, die Produktion lasse sich nur noch am Standort mit den tiefsten Lohnkosten aufrechterhalten, eine Begründung, die jedem Konsumenten nach dem Blick auf die Herkunftsetiketten der Produkte einleuchten muss.
Vor dem Hintergrund dieser offenbar verhängnisvollen Verkettungen in einer arbeitsteiligen Welt braucht es nur noch wenig, um die Bedrohung des Lebensstandards durch die Konkurrenz der Schwellenländer plausibel zu machen. Als ausgemacht gilt, dass die Globalisierung alle geltenden ökonomischen Gesetze auf den Kopf gestellt hat. Selbst die hohe Produktivität der Arbeitnehmer in den Industrieländern scheint deren hohe Löhne nicht mehr sichern zu können, lässt sich doch in der globalisierten Wirtschaft immer ein anderer finden, der dieselben Produkte zu einem tieferen Lohn herstellen will.
Allein die süffigen Thesen halten einer näheren Überprüfung nicht stand. Das beginnt schon bei der Behauptung, die Volkswirtschaften seien heute enger ineinander verzahnt als je zuvor. Zwei Beispiele mögen das Gegenteil belegen. So waren nach Schätzungen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich die Leistungsbilanzungleichgewichte und die entsprechenden Kapitalströme vor 1914 größer als in den turbulenten Jahren der Schuldenkrise nach 1980. Dieses Resultat entspricht auch einem Fund aus der Zahlungsbilanzstatistik, wonach die Kapitalströme aus dem damals alle anderen Volkswirtschaften dominierenden Vereinigten Königreich vor dem Ersten Weltkrieg bei 6,6 % des Bruttoinlandprodukts lagen, gegenüber 1,1 % in den achtziger Jahren. Ebenfalls mit Händen zu greifende Unterschiede ergeben sich mit Blick auf die Migration: Niemand wird bestreiten wollen, dass die globale Wanderung von Arbeitskräften heute weit gravierenderen Einschränkungen unterliegt als in den hundert Jahren nach 1815, in denen die hungernden Völker Europas den Verheißungen der leeren Territorien in Übersee folgten.
Was die Welt schon in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts – und nicht erst heute – zusammenrücken ließ, waren der dampfgetriebene Massenverkehr zu Land und Wasser sowie die rasche Verbreitung der Telegraphie. Das waren qualitative Veränderungen, welche die Volkswirtschaften erstmals rund um den Globus integrierten. Im Vergleich dazu handelt es sich bei den heutigen Kommunikations- und Verkehrsmitteln bloß um quantitative Verbesserungen eines bereits vor mehr als hundert Jahren erreichten Standards.
Im Widerspruch zu einfachen Bilanzrelationen steht sodann die eingangs zitierte Behauptung, die Schwellenländer wiesen einen Überschuss sowohl in der Kapitalbilanz wie in der Handelsbilanz aus, wobei der erste Überschusssaldo aufgrund des Zustroms von Direktinvestitionen aus den Industrieländern entstehe, der zweite als Folge der aggressiven Exportstrategie. Begreift man jedoch die Zahlungsbilanz als Kassenkonto, auf dem sich die monetären Bewegungen aus dem Verkehr mit der Außenwelt nach den Regeln der doppelten Buchführung immer ausgleichen müssen, so ist leicht einzusehen, weshalb es die behaupteten Zwillingsüberschüsse überhaupt nicht geben kann. Erzielt ein Land einen Exportüberschuss, so steht diesem Saldo als buchhalterische Position eine entsprechende Kapitalausfuhr gegenüber; weist es dagegen ein Defizit in der Leistungsbilanz aus, so muss es sich den Fehlbetrag in der Form von Kapitaleinfuhren beschaffen. Japan und die Schweiz exportieren Kapital aufgrund ihrer Leistungsbilanzüberschüsse; die USA gehören zu jenen Ländern, die sich ihre Güternachfrage seit Jahr und Tag durch das Ausland finanzieren lassen. Da die gleichen Bilanzrelationen in der Dritten Welt ebenfalls gelten, kann sie nicht massenweise Kapital aus den Industrieländern einführen und diese Länder im Gegenzug mit Produkten überschwemmen.
Bei einer ökonomisch fundierten Analyse der Handelsbeziehungen zwischen Nord und Süd verliert das Gespenst der Globalisierung vollends an Schrecken. Die Handelsströme zwischen den Nationen fließen nämlich nicht, weil ein Land über einen absoluten Kosten- oder Produktivitätsvorsprung verfügt, sondern, weil es einen relativen Vorteil genießt. Diese von David Ricardo vor mehr als 150 Jahren formulierte Erkenntnis gehört zu den Eckpfeilern der Wirtschaftswissenschaften, auch wenn die «Theorie der komparativen Kosten» wegen der oft wider den Strich gehenden Resultate immer wieder falsch interpretiert wird. Nach Ricardo lohnt sich der Warenaustausch zwischen zwei Ländern selbst dann, wenn einer der Partner über absolute Kostenvorteile bei allen gehandelten Gütern verfügt.
So treibt die USA mit Malaysia Handel, nicht, weil das malaysische Lohnniveau nur 15 % des amerikanischen beträgt (der Lohnvorteil Malaysias wird nämlich in den meisten Fällen durch eine ebenso niedrige Produktivität konterkariert), sondern weil das Schwellenland etwa bei Textilien über komparative Vorteile verfügt – genau wie Amerika gegenüber Malaysia bei der Herstellung von Werkzeugmaschinen Vorteile ausschöpfen kann, obwohl das Lohnniveau dort um das Sechsfache über dem malaysischen liegt. Studien zeigen ferner, dass bei einzelnen Branchen in Indien und Thailand die Stücklohnkosten mittlerweile über denen der Industrieländer liegen. Vor diesem Hintergrund ist denn auch das Argument zu entkräften, auf der Basis von Drittweltlöhnen ließen sich in Verbindung mit produktiver West-Technologie heranzüchten. Nach aller Erfahrung muss sich nämlich die höhere Produktivität über kurz oder lang in ebenfalls höheren Löhnen niederschlagen (Südkorea gilt als Paradebeispiel für eine solche Entwicklung), oder dann löst der Wettbewerbsvorteil eine Aufwertung der Währung aus, genau wie dies in der hochproduktiven Schweiz seit Jahren der Fall ist.
Das will nicht heißen, der Außenhandel werfe nur Dividenden ab. Die internationale Arbeitsteilung erfordert vielmehr Spezialisierung. In dem Masse, wie sich die Arbeitsteilung verfeinert, ist auch die Spezialisierung einem steten Wandel unterworfen.
Dabei geraten in den Industrieländern jene Produktionsfaktoren unter Druck, die im Vergleich zum reichlichen Arbeitskräfteangebot der Dritten Welt keine Knappheitsrenten mehr abschöpfen können. Das trifft ungelernte Arbeitskräfte, weil sie Beschäftigungen nachgehen, in denen sich kaum mehr Produktivitätsreserven realisieren lassen. Lohneinbussen oder Arbeitslosigkeit sollten für sie der Anreiz für eine bessere Qualifizierung und zur Umschulung auf Berufe sein, die im Rahmen der Arbeitsteilung verlangt werden. Falsch wäre es allerdings, aus dem Lohndruck auf die schlechter qualifizierte Arbeit die Forderung nach einer generellen Lohnkürzung ableiten zu wollen. Sofern höhere Löhne mit einer höheren Produktivität und damit einem komparativen Vorteil verbunden sind, lässt sich die Leistung dieser Arbeitnehmer gegen jedes Angebot halten.
Arme Entwicklungsländer gehören zu den Verlierern der Globalisierung. Sie haben Nachteile durch die Liberalisierung des Welthandels und schaffen es kaum, spezifische Wettbewerbsvorteile zu etablieren. In der Entwicklungszusammenarbeit mit armen, strukturschwachen Entwicklungsländer wäre Unterstützung bei der Formulierung von Standortstrategie- und -politik ein den Umständen nicht angemessenes Ziel. Ebenfalls muss die Entwicklungszusammenarbeit mit diesen Ländern mehr sein als internationale Sozialhilfe. Die Schwäche vieler Entwicklungsländer ist das Ergebnis einer Kombination einer ungünstigen Ausgangslage bei der Unabhängigkeit (wie zum Beispiel wirtschaftliche Monostruktur als koloniales Erbe und das insgesamt geringe Bildungsniveau der Bevölkerung) und verfehlter Entwicklungspolitik.
Vor diesem Hintergrund ist den Pessimisten zu entgegnen, dass die Globalisierung weder die ökonomischen Gesetze auf den Kopf stellt noch den Wohlstand der Industrieländer bedroht. An der Einsicht, dass die Prosperität eines jeden Landes von selbst zu verantwortenden Faktoren abhängt, hat sich im Gegenteil nichts verändert. Die Flucht in die Abschottung wäre darum verfehlt. Die Welt hat in der Zwischenkriegszeit die bittere Erfahrung gemacht, dass alle Abkopplungsversuche und alle Schritte in die wirtschaftliche Autarkie geradewegs in den Ruin führen. Vom Handel und von der Integration in die globale Wirtschaft können alle profitieren. Aber die Integrationsdividende wird nur einstreichen, wer zur Anpassung an die Gegebenheiten einer arbeitsteiligen Welt bereit ist.