Was die neuen Medien an Veränderung für den Einzelnen und für die Gesellschaft bringen, eher Chancen oder eher Nachteile, ist nicht genau vorherzusagen, sondern nur behutsam abzuwägen, indem man von bekannten Erscheinungen auf das Unbekannte schließt.
So relativiert der Autor Arn Strohmeyer in seinem Artikel über die Folgen der neuen Kommunikationstechnologien "Abschied vom Lesen: Super-Gau unserer Kultur?" von vornherein mögliche Zukunftsprognosen. Denn er zeigt an einem Beispiel, dass jede Einführung neuer Medientechnologien (z.B. die Verbreitung von Büchern) in der Vergangenheit übersteigerte Ängste vor den Folgen hervorgerufen hat. Allerdings müsse bei der jetzt anstehenden Einführung multimedialer Kommunikationsmöglichkeiten tatsächlich mit großen Umwälzungen gerechnet werden. Dabei wurden in dem vorliegenden Textausschnitt vor allem die möglichen Schattenseiten benannt: Diese werden a in der Informationsüberflutung, b in der Ablösung der Schriftkultur durch das Visuelle gesehen.
a. Die Informationsüberflutung verlangt von uns, da die Aufnahmefähigkeit nicht grundsätzlich wächst, neue Urteilskriterien für die Auswahl von Informationen.
b. Die These, dass die visuellen Eindrücke und Informationen gegenüber den verbalen Informationen einseitig verstärkt werden, steht im Mittelpunkt des Artikels, was auch der Titel unterstreicht.. Wissenschaftler vermuten aufgrund entsprechender Vergleichsuntersuchungen bei Kindern, dass die visuelle Informationsaufnahme weniger nachhaltig und kreativitätsfördernd wirkt. Daraus wird einerseits gefolgert, es gehe mit der Schriftkultur überhaupt zu Ende; Erscheinungen wie verstärkter Fernsehkonsum, abnehmende Bedeutung von Büchern und Bibliotheken sowie zunehmender Analphabetismus können dies These belegen. Zwei Bedeutungen ergeben sich für bestimmte Experten("Verbalisten" genannt) hieraus: Der Gebrauch von Sprache könne auf eine Signalfunktion, insbesondere zum Gebrauch von Computern, reduziert werden. Es drohe eine neue soziale Teilung zwischen einer Elite mit Schriftkultur und Wissen und einem "Wissensproletariat".
Zunächst möchte ich möchte ich die beiden Argumente (a, b), die für katastrophale Folgen der Kommunikationstechnologie zu sprechen scheinen, auf ihre Beweis und Überzeugungskraft hin prüfen.
Zum ersten Problem der Informationsfülle (a) werden überraschenderweise nur Thesen und Schlussfolgerungen vorgetragen; Sie nimmt zu- die Aufnahmefähigkeit dagegen nicht-, Auswahlkriterien sind erforderlich. Dennoch wirken diese Aussagen auch ohne Begründungen und Belege überzeugend, weil sowohl allgemeine Logik wie eigene Erfahrungen dafür sprechen.
Problematisch erscheint mir dagegen die Argumentation zur zweiten These (b) vom "Ende des Lesens und der Schriftkultur", Zwar leuchtet nach dem dargestellten Experimenten ein, dass ausschließlich visuelle Informationen oberflächlich bleiben, vielleicht sogar die Entwicklung von Erkenntnis und Kreativität einschränken. Aber die Belege dafür, dass es tatsächlich auf breiter Front zu einem Ende des Lesens und damit zu einer Kultur der Vergänglichkeit (also ohne Erinnerung) kommt, sind keineswegs beweiskräftig. Obwohl der durchschnittliche Fernsehkonsum hoch erscheint, lässt sich kaum beweisen, dass Menschen ohne Fernsehen mehr lesen würden und zudem etwas, was sie intellektuell und kreativ beansprucht. Genauso wenig überprüfbar und haltbar ist die Behauptung Bücher seien keine "Wegweiser" oder "Ereignisse" mehr. Literatur wird auch im Fernsehen erfolgreich diskutiert; die Buchproduktion nimmt zu, gerade auch die Ratgeberliteratur, wie man denNachrichten über die Frankfurter Buchmesse entnehmen kann.
Wenn der "Abschied vom Lesen" zunächst kaum beweisbar erscheint, dann hängen auch die beiden übrigen Schlussfolgerungen des Textes zunächst in der Luft: die von der Reduktion der Sprache auf ein Computer – "uniquac" und die von der sozialen Spaltung in wenige Schriftkundige und viele Analphabeten.
Wenn man nun Ängste und Hoffnungen, die sich mit den neuen Medientechnologien verbinden können, auf der Grundlage dieses Artikels erörtern möchte, so stellen sich für mich zwei kritische Fragen:
Sind erstens die Sorgen, die im vorliegenden Text vorgestellt werden, tatsächlich im Charakter der neuen Medien begründet und damit überzeugend? Und zweitens gibt es Chancen und Hoffnungen, die im Text nicht erwähnt werden?
Grundsätzlich habe ich der These von der drohenden Informationsfülle zugestimmt.
Aber ist die damit verbundene Überforderung tatsächlich neu? Auch im Buchzeitalter konnte kaum ein Mensch für sich in Anspruch nehmen, das Wissen seines eigenen Berufes oder Faches, geschweige denn das eigentliche nötige Wissen über Umwelt, Politik, Hobby usw, wirklich zu beherrschen. Das heißt: Es ist zwar richtig, dass die neuen Medien noch unendlich mehr an nötigem Wissen bereithalten, aber das Problem der nötigen Verarbeitung und Orientierung stellt sich nicht erst jetzt und durch sie. Möglicherweise wird es durch neue Computer unterstützte Suchsysteme auf Dauer sogar erleichtert.
Noch weniger hängt die Sorge von Verdrängung der Schriftkultur unmittelbar mit den neuen Kommunikationstechnologien zusammen. Wenn im Text von der Einseitigkeit des Visuellen die Rede ist, so ist damit im Grunde die Entwicklung des Fernsehens und seiner Programmvielfalt gemeint. Das sind aber nicht die wirklich neuen Medien, sondern darunter muss man z.B. solche Erscheinungen verstehen wie Internet, Datenbanken, Kommunikations- und Lernmöglichkeiten, die jederzeit abrufbar sind, auch über eine große Distanz. Dies kombinieren zwar Bild, Film und Text stärker als frühere Medien, können aber keineswegs auf Schrift verzichten und Lesefähigkeit verzichten, im Gegenteil. daher ist der Vergleich zwischen Schriftkultur und neue Medien, der im Text versucht wird, unangemessen.
Mehr oder weniger stillschweigend wird einem nur anspruchslosen Fernsehkonsum ein anspruchsvolles Lesen gegenübergestellt.
Genauso gut oder falsch könnte man ein schlichtes Lesen schwierigen Aufgaben der Telekommunikation wie das Auswerten von Datenbanken gegenüberstellen.
Meines Erachtens gehen also die Hauptargumente, die in diesem Artikel für eine Gefährdung zu sprechen scheinen, an dem Charakter der neuen Technologie vorbei.
Darüber hinaus werden aber auch die Chancen, die mit ihnen verbunden sind, zu wenig gesehen. Dabei denke ich nicht nur an die Möglichkeit neue Produkte und Aufgaben und damit auch neue Arbeitsplätze zu schaffen, sondern auch an die Chance der Lösung von Zukunftsproblemen, die durch bessere Informationsspeicherung, Verarbeitungs- und Steuerungssysteme gezielter angegangen werden könnte, und schließlich an die Möglichkeit einer weltweiten, relativ kostengünstigen Verständigung. Selbst im Hinblick auf die Sorge um Schriftkultur könnten die neuen Technologien positivere Folgen als gedacht haben. Zwar wird man in Zukunft häufiger am Bildschirmlesen. Zugleich werden Menschen, die die neuen Technologien nutzen, wohl stärker in der Lesefähigkeit gefordert. dabei handelt es sich nicht nur um das Lesen einer primitiven Signalsprache, sondern, wie in dem Artikel richtig herausgestellt worden ist, wir es immer stärker um eine Auswahl des Wichtigen gehen. Verlangt werden dabei eine inhaltliche Verstehensfähigkeit und eine gute Allgemeinbildung, die Überblick und Auswahl erst ermöglichen.
Die Voraussetzung für eine solche Entwicklung ist zum Teil, dass alle Menschen auch den Zugang zu den neuen Medien haben und Nutzen daraus ziehen können, z.B. an einem anspruchsvollen Arbeitsplatz. Sonst bestünde tatsächlich die Gefahr einer sozialen Trennung in Wissende und Unwissende, wie sie im Artikel angedeutet wird.
Abschließend fasse ich meine Stellungnahme so zusammen: Ich erwarte mehr Chancen als Nachteile von der Kommunikationstechnologie, auch im Hinblick auf die Anforderungen im sprachlichen Verstehen und eigene Bildung.
Allerdings wird es darauf ankommen, dass alle Menschen Zugang dazu erhalten. Die im Artikel geäußerten Sorgen sind entweder gar nicht oder nicht allein in den neuen Medien begründet. Meines Erachtens hat auch der Autor, wie sein Eingangsbeispiel zeigt, zu Überlegungen anregen wollen, ob unsere heutigen Sorgen übersteigert sein könnten.