Erbkrankheiten
Im Gegensatz zu Erkrankungen, die exogen z.B. durch Infektionen ausgelöst werden, entstehen Erbkrankheiten endogen: Sie sind im Genom des Organismus angelegt und prägen sich im Laufe der genetischen Expression zusammen mit all seinen anderen Merkmalen aus.
Vom Merkmal zum Gen und vom Gen zum Merkmal
Die Symptomatik mancher Erbkrankheiten ist seit dem Altertum bekannt. Im vergangenen Jahrhundert kam man ihrer Entstehung dann mit der klassischen Genetik näher auf die Spur: Erbkrankheiten werden ebenso dominant oder rezessiv vererbt wie die anderen Merkmale eines Organismus, und es läßt sich oftmals aus dem Stammbaum einer betroffenen Familie schließen, welche der beiden Möglichkeiten zutrifft. Diese Gene können auf einem Körperchromosom (Autosom) oder einem Geschlechtschromosom (Gonosom) liegen, daher werden autosomale und X-chromosomale Erbgänge unterschieden.
In den fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts gelang es Pauling, mit der Strukturaufklärung des Sichelzellhämoglobins erstmals die molekularen Grundlagen einer Erbkrankheit auf der Ebene des Genprodukts zu entschlüsseln, und nach weiteren dreißig Jahren war mit der Beschreibung der Globin-Gene und ihrer Mutationen >des Pudels Kern< für diese Anämien gefunden.
Seither wurden anhand der molekulargenetischen Analytik laufend neue krankheitsauslösende Genveränderungen beschrieben, und aus den zu Zeiten der klassischen Genetik bekannten 2 – 3 Dutzend Erbkrankheiten sind heute schon über 4.000 geworden, die durch einen genetischen Defekt verursacht werden.
Überblick
Das klassische Bild einer Erbkrankheit impliziert häufig, daß nur ein verändertes Gen (dominant oder rezessiv) vererbt wird („monogene Vererbung“). Beispiele solcher monogen vererbter Krankheiten sind die Cystische Fibrose, die Muskeldystrophie Duchenne, die Chorea Huntington, die Myotone Dystrophie und die Hämophilie A. Ihnen liegen unterschiedliche Arten von Genmutationen zugrunde. Eine „Sonderstellung“ unter den genetischen Krankheitsursachen nehmen die uniparentalen Disomien und die mitochondrialen Gendefekte ein.
Neben den „klassischen“ Erbkrankheiten werden inzwischen auch immer mehr „polygen vererbte“ Krankheiten beschrieben: Mehrere Gene sind an der Ausprägung eines Symptoms beteiligt, und es hängt von ihrem Zusammenspiel und ggf. weiterhin von dem Zusammentreffen mit Umweltfaktoren ab, ob die Krankheit manifest wird. In diesen Fällen wird also nicht mehr unmittelbar die Krankheit, sondern zunächst nur eine Disposition dazu vererbt. Man spricht in diesen Fällen heute meist von multifaktorieller Vererbung; als Beispiel wird im Folgenden die koronare Herzkrankheit (KHK) behandelt.
Zu den polygen vererbten Störungen gehören auch eine Reihe von Krankheiten, die auf Fehlregulationen der Immunantwort beruhen. Dabei spielen neben den durch Genumlagerungen enstehenden Antikörpern, häufig die MHC-Gene eine Rolle (Major Histocompatibility Complex, HLA-System, „Transplantationsantigene“). Sie codieren Zelloberflächen-Proteine und legen dabei die von Individuum zu Individuum verschiedene „molekulare Identität“ des Organismus fest: Das Immunsystem kann anhand dieser „Aushängeschilder“ auf der Zelloberfläche zwischen „fremd“ und „selbst“ unterscheiden. Veränderungen in der Struktur dieser Oberflächenproteine können daher eine „falsche Immunantwort“ nach sich ziehen und u.U. eine Autoimmunerkrankung auslösen. So werden z.B. bestimmte MHC-Allele häufiger bei Patienten mit insulinpflichtigem Diabetes beobachtet, der teilweise auf einer Zerstörung der insulinbildenden Zellen des Pankreas durch das Immunsystem beruht. Z.T. entstehen durch Viren bzw. Viruserkrankungen Autoimmunprozesse, die die Inselzellen zerstören.
K:Cystische Fibrose (Mukoviszidose)
Die cystische Fibrose ist eine relativ häufige Krankheit, deren auffälligstes Symptom ein sehr zäher Schleim in den Atemwegen ist, der schwere Bronchitiden hervorruft und unbehandelt zum frühen Tod der Patienten durch Lungenentzündungen führen kann. Da auch die Schleimsekretion im Verdauungstrakt gestört ist, kommt es zu Verdauungsstörungen und z.B. zur Pankreasfibrose infolge der Obstruktion des Pankreasausführungsganges durch den zähen Schleim.
Weiterhin bilden die Betroffenen einen besonders „salzigen“ Schweiß. Schon vor Jahren wurde die Krankheit mit beobachteten elektrochemischen Besonderheiten (hohe Potentialdifferenzen infolge verringerter Chlorid-Ionen-Leitfähigkeit) an der Oberfläche der Schleimhautzellen in Verbindung gebracht; eine Erklärung dafür hatte man jedoch nicht.
Die Krankheit wird autosomal rezessiv vererbt: Die Vererbung ist also nicht an ein Geschlechts-Chromosom gekoppelt. Das erschwerte die Auffindung des Krankheitsgens bzw. machte sie mit den Methoden der klassischen Genetik unmöglich. Die gentechnischen Methoden, die 1989 zur Identifizierung des CF(=Cystische Fibrose)-Gens geführt haben (Riordan et al., Science 245,1066(1989), sind im folgenden Schema zusammengefaßt:
- Vergleich des „phänotypischen“ Stammbaumes mit dem „molekularen“ Stammbaum
- Kartierung auf Chromosom 7
- Klonierung des CF – Gens
- Struktur des Genprodukts
Das ca. 230.000 Basenpaare lange CF-Gen verteilt sich auf 27 Exons, die ein 1.480 Aminosäuren langes Protein codieren.
Natürlich kommen in einem so großen Protein verschiedene Mutationen vor; signifikant mit dem Krankheitsbild verknüpft ist offenbar die Deletion dreier Nucleotide in Exon 10, die den Verlust eines Phenylalanin-Restes in Position 508 des Proteins verursacht. Diese Mutation wird in Mitteleuropa mit einer Häufigkeit von 70 % beobachtet. Man kennt heute bereits 700 verschiedene Mutationen. Weist eine betroffene Person in ihrem Genom 2 verschiedene Mutationen auf, spricht man von „Compound“. Über die klinischen Folgen derartiger Mutationskombinationen weiß man derzeit nur wenig.
Anhand der Aminosäuresequenz des Proteins lassen sich in dem Molekül hydrophobe und polare Regionen festlegen, die es als ein typisches Membranprotein charakterisieren und auf Funktionen beim Ionentransport schließen lassen (Chloridkanal; daher auch seine Bezeichnung CFTR=cystic fibrosis transmembrane regulator).
Damit schließt sich der Kreis immerhin bis zu der ursprünglichen Beobachtung erhöhter Potentialdifferenzen auf den Zelloberflächen von CF-Patienten. Gleichzeitig eröffnen sich neue Perspektiven für verbesserte konventionelle Therapien und auch Ansatzpunkte für eine Gentherapie: In Liposomen „verpackt“, werden gesunde CF-Gene von den Patienten inhaliert, und man hofft, daß die Zellen diese DNA aufnehmen und zumindest teilweise in ihr Genom einbauen. Die Einschleusung der Liposomen in die oberflächlichen Zellen der Bronchialschleimhaut ist nachgewiesen, die Expression des gesunden Gens scheint zu gelingen, seine Wirksamkeit wird auf einige Wochen geschätzt. Die Anwendung befindet sich derzeit im Stadium der Verträglichkeitsprüfung. Eine breitere Anwendung an Betroffenen ist noch nicht vertretbar, da eine Langzeitverträglichkeit noch nicht nachgewiesen werden konnte.
V: Muskeldystrophie Duchenne
Die Muskeldystrophie Duchenne kann als eine der schwersten erblichen Muskelkrankheiten bezeichnet werden, sie beginnt bereits um das 3. – 4. Lebensjahr, betrifft nur Knaben und verläuft progredient, d.h. fortschreitend und sich ständig verschlimmernd. Anfänglich fällt auf, daß die Knaben etwas mehr hinfallen als ihre gesunden Geschwister, sie vermögen schlecht Schwellen oder kleinere Erhebungen (Gymnastikmatte) zu überschreiten und zu erklimmen, allmählich verschlechtert sich auch das Treppengehen. Es entwickeln sich kräftige Waden, die aufgrund einer Pseudohypertrophie (scheinbaren Muskelverdickung) so prominent erscheinen, feingeweblich aber aus Fettgewebe bestehen und daher zur Muskelleistung nicht in der Lage sind.
Etwa um das 10. Lebensjahr benötigen die betroffenen Jungen einen Rollstuhl, um sich fortbewegen zu können. Allmählich werden neben der Wadenmuskulatur auch die langen Rückenstreck-Muskeln abgebaut, so daß auch das Aufrichten aus dem Liegen oder Sitzen sehr erschwert ist. Später werden auch die Armmuskeln, danach die Brust- und Atemmuskeln betroffen, was oftmals zu Lungenkomplikationen durch die Unmöglichkeit zum Abhusten führt. In einem Teil der Fälle kommt es schließlich zum Tod durch Herzversagen.
Die Erkrankung führt zu einem fortschreitenden Zerfall der Muskelzellen, was sich durch Nachweis extrem hoher Konzentrationen von Muskelenzymen im Blut erfassen läßt. Diese Untersuchung kann bereits bei sehr jungen Kindern durchgeführt werden und zur Diagnosestellung Anlass sein, längere Zeit bevor erste Krankheitsmerkmale auftreten. Zugrunde liegt ein Gendefekt, der den ordnungsgemäßen Aufbau des Strukturproteins Dystrophin verhindert, das die normale Festigkeit und Funktionsfähigkeit der Muskelzellen gewährleistet.
Das Gen für diese Erkrankung liegt auf dem kurzen Arm des X-Chromosoms, es besteht aus 79 Exons, zahlreiche Mutationen in diesem Gen wurden nachgewiesen. Z.T. handelt es sich um Punkmutationen, in anderen Fällen beobachtet man mehr oder weniger ausgedehnte Deletionen von DNA-Abschnitten. In jedem Falle kommt es zu einer Verschiebung des Leserasters der DNA („Mutation out of frame“), so daß die genetische Information nicht mehr abgelesen werden kann, d.h. die Synthese des Dystrophins nicht mehr gelingt.
Aus der Lokalisation des Gens auf dem X-Chromosom leitet sich ab, daß Knaben die Anlage für diese Erkrankung von ihrer Mutter erhalten, es sei denn, eine Neumutation bei dem Knaben selbst ließe sich nachweisen. Aber auch in diesem Falle kann ein etwas erhöhtes Wiederholungsrisiko bei Geschwistern nicht ausgeschlossen werden, da in ca. 9 % aller derartigen Beobachtungen bei der Mutter ein Keimzellmosaik als Erklärung für ein zweites betroffenes Kind angenommen werden muß.
In jedem Fall kann in einer Familie, bei der ein Gendefekt im Duchenne-Gen nachgewiesen werden konnte oder bei der ein indirekter Nachweis möglich erscheint, eine pränatale Untersuchung in jeder weiteren Schwangerschaft angeboten werden. Wegen der Schwere der Erkrankung, ihres fortschreitenden Verlaufs und der derzeit nicht vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten entschließen sich betroffene Familien bei Nachweis eines betroffenen Knaben meist zur vorzeitigen Beendigung ihrer Schwangerschaft. Schwestern eines Jungen mit Muskeldystrophie Duchenne haben eine Wahrscheinlichkeit von 50 %, so wie ihre Mutter Konduktorin zu sein.
Wir kennen eine andere Muskeldystrophie, die einen ähnlichen Krankheitsverlauf, nur über einen viel längeren Zeitraum erkennen läßt, sie wird nach Becker und Kiener benannt. Das Gen liegt im gleichen Bereich wie das für die schwere Dystrophie vom Typ Duchenne. Die dabei beobachteten Mutationen führen jedoch nicht zu einer Verschiebung des Leserasters, die Mutationen sind „in frame“, daher kommt es zu einer noch teilweise möglichen Ablesung der genetischen Information und einem sehr viel langsameren Verlust an Dystrophin bei den Betroffenen. Während hier ein Rollstuhl in der Regel erst nach dem 40. Lebensjahr benötigt wird, kann bei sehr ausgedehnten Deletionen (z.B. über mehrere Exons hinweg) auch ein früher Beginn und schwerer Verlauf beobachtet werden.
V: Chorea Huntington
Als Chorea Huntington bezeichnet man eine schwere Nervenkrankheit, die in der Regel um das 40. Lebensjahr manifest wird, dann einen progredienten Verlauf zeigt und etwa innerhalb von 15 Jahren nach Beginn zum Tode führt. Erste Symptome stellen nicht selten psychische Auffälligkeiten, gelegentlich sogar schizoide Psychosen dar, ehe sich dann die typischen Bewegungsstörungen entwickeln. Sie imponieren anfangs als allgemeine Nervosität, werden häufig von den Betroffenen gut kaschiert, bewirken dann allerdings Unsicherheit, Neigung zum Torkeln, Schwanken, Zittern und gestatten bald nicht mehr, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Invalidität ist die Folge, in vielen Fällen kommt es parallel zu diesen mehr körperlichen Symptomen zu einem progressiven geistigen Abbau bis hin zur Demenz. Hilflosigkeit und allgemeiner Verfall kennzeichnen das Endstadium der Krankheit.
Das Gen für die Chorea Huntington liegt auf dem kurzen Arm des Chromosoms 4. Es wird autosomal dominant vererbt, d.h. das Erkrankungsrisiko für Kinder eines Betroffenen beträgt, unabhängig vom Geschlecht, 50 %. Der Gendefekt wurde als CAG-Repeat erkannt, worunter eine mehrfache Wiederholung des Tripletts CAG in einem bestimmten Genabschnitt zu verstehen ist. Bei Gesunden wird eine Wiederholung dieses Tripletts bis 36mal beobachtet, bei Kranken bzw. Trägern des pathologischen Gens werden Repeatzahlen von mehr als 40 gefunden. Im dazwischen liegenden Bereich sind sichere Aussagen nur durch Vergleich mit betroffenen Personen in der gleichen Familie aussagekräftig. Inwieweit aus der Zahl der Repeats (maximal wurden etwa 100 beobachtet) auf das Alter bei Krankheitsbeginn oder den Schweregrad im Einzelfall geschlossen werden kann, ist bis heute nicht entschieden. Zwar geht man in vielen Familien von einem familientypischen Erkrankungsalter aus, es gibt aber immer wieder Abweichungen davon bei einzelnen Personen in diesen Familien.
Im Bereich des Stammhirns betroffener Personen kommt es zu degenerativen Veränderungen, besonders im Nucleus caudatus und im Putamen, woraus die Bewegungsunruhe abgeleitet wird. Eine kausale Therapie steht heute noch nicht zur Verfügung, symptomatisch lassen sich medikamentös anfänglich die Bewegungsstörungen und auch die psychischen Alterationen beeinflussen, langfristig ist allerdings nicht mit einer Besserung zu rechnen.
Heute wünschen in zunehmendem Umfang Risikopersonen, die einen betroffenen nahen Verwandten mit Chorea Huntington in der Familie haben, eine prädiktive Untersuchung. Sie möchten erfahren, ob sie Genträger sind oder nicht. Familienplanung, Änderung der Lebensweise und berufliche Perspektiven sind für diesen Wunsch meist bedeutsam. Derartige Untersuchungen bei noch nicht betroffenen Personen werden als prädiktive Medizin oder Diagnostik bezeichnet. Sie bieten für den Ratsuchenden und die betreuenden Ärzte erhebliche menschliche und ethische Probleme.
Aus diesem Grund haben die Humangenetiker in Europa Empfehlungen erarbeitet, die in dieser Situation zum Schutze der Risikoperson beachtet werden sollen. Einige sollen hier genannt werden:
Die Untersuchung darf nur von Risikopersonen selbst gewünscht werden.
Die Untersuchung erfolgt nur bei volljährigen Personen, nicht bei Kindern.
Die Untersuchung erfolgt nur im Zusammenhang mit einer umfassenden genetischen Beratung.
Der Risikoperson wird eine psychotherapeutische Gesprächsbegleitung nachdrücklich empfohlen während der Zeit der Entscheidungsfindung, ob die Untersuchung erfolgen soll, während der Zeit der Diagnosestellung und vor allem nach Ergebnismitteilung.
Auch der Partner der Risikoperson sollte eine entsprechende Gesprächsbegleitung haben bzw. wahrnehmen, da auch für ihn aus der Untersuchung wesentliche Veränderungen seiner Lebensplanung entstehen können.
Vor Ergebnismitteilung wird die Risikoperson ausdrücklich gefragt, ob sie das Ergebnis erfahren möchte, sie kann – ohne Angabe von Gründen – sagen, daß sie dies nicht wünscht.
Eine pränatale Untersuchung in Bezug auf eine Chorea Huntington ist möglich, sie sollte aber bei Nachweis des krankheitsauslösenden Gens bei dem Föten zum Abbruch der Schwangerschaft führen. Eine Prädiktion bereits im Mutterleib wird als ethisch ausgesprochen belastend empfunden und verletzt das Recht des Kindes auf Nichtwissen und macht ihm eine eigenverantwortliche Entscheidung über diese Frage unmöglich.
K: Myotone Dystrophie
Als Myotone Dystrophie – oder Dystrophia myotonica Curshmann-Steinert – bezeichnet man eine Erkrankung, die durch ein relativ buntes Muster an klinischen Symptomen gekennzeichnet ist. In den meisten Fällen beobachtet man eine Muskelstörung, die durch Kälte verschlimmert wird und sich vor allem im Bereich der Extremitätenmuskeln, der Kau- und der Zungenmuskulatur zeigt. Hier kommt es zu erschwerten Muskelbewegungen, die Hände oder Augen können nur schwer geöffnet werden, wenn sie zuvor fest geschlossen wurden. Im Bereich des Gesichtes beobachtet man eine Reduzierung der Mimik, es kommt zu leicht geöffnetem Mund, schlaffer perioraler Muskulatur, in manchen Fällen sind Sprechen und Kauen erschwert, die Sprache erscheint verwaschen. (Familienfotos zeigen manchmal in charakteristischer Weise Ähnlichkeiten des Gesichtsausdrucks durch die Muskelschlaffheit.) Diabetes mellitus und Katarakt sind weitere Begleitmerkmale, die gelegentlich als einziges Zeichen der Erkrankung nachweisbar werden, in anderen Fällen ist das Vollbild mit allen genannten Symptomen erfaßbar. Bei Männern gilt die Stirnglatze als charakteristisch, es kommt meist zur Abmagerung und zu Fettgewebsschwund. Wesensänderungen, gelegentlich auch Intelligenzminderung werden bei Betroffenen beobachtet.
Es handelt sich um ein autosomal dominant vererbtes Krankheitsbild, dessen unterschiedliche Expressivität die genetische Zuordnung in manchen Familien sehr erschweren kann. Eine besondere Gefahr besteht für Kinder von betroffenen Müttern, sie zeigen häufig eine schwere angeborene Erkrankungsform, die zur Ausbildung eines sog. floppy baby führt, dessen Lebenserwartung sehr gering eingeschätzt werden muß. Die Beziehung zwischen diesen beiden Befunden ist so eng, daß bei Geburt eines sehr hypotonen Neugeborenen, das auch nur wenig Kindsbewegungen während der Schwangerschaft bewirkte, bei der Mutter nach Symptomen einer myotonen Dystrophie gefahndet werden sollte. Die Wiederholungswahrscheinlichkeit für eine solche schwere Störung des Neugeborenen ist außerordentlich groß, sie findet sich aber nicht bei väterlicher Erkrankung.
Der Gendefekt wird auf dem Chromosom 19 lokalisiert, die Mutationen äußern sich – ähnlich wie bei Chorea Huntington – durch das Auftreten von CTG-Repeats unterschiedlicher Ausdehnung. 5 bis 35 Repeats werden bei Gesunden, 51 bis 200 bei Kranken beobachtet, 36 bis 50 Repeats bezeichnet man als Prämutation. Durch die Bestimmung der Repeatzahl ist auch eine vorgeburtliche Untersuchung möglich, wobei die sich evtl. ergebenden Entscheidungen bei bisher leichtem Befall in der untersuchten Familie wohl überlegt werden müssen. Es scheinen Beziehungen zwischen klinischem Schweregrad und Länge der Repeats vorzuliegen.
Auch bei dieser häufig sich erst spät manifestierenden Erkrankung besteht die Möglichkeit einer prädiktiven Diagnostik; sie hat bezüglich der Familienplanung einen bedeutsamen Stellenwert. Aber auch hier ist eine sorgfältige Abwägung vorzunehmen bezüglich der Veränderungen der Lebensplanung bei Nachweis des krankheitsauslösenden Gens bei einer noch symptomlosen Person und in Anbetracht der Tatsache, daß wesentliche Therapiemaßnahmen nicht vorhanden sind, die den Verlauf zu beeinflussen vermöchten. Psychotherapeutische Begleitung in Form einer Gesprächstherapie wird nachdrücklich empfohlen.
K: Hämophilie
Man unterscheidet zwei verschiedene Formen der Hämophilie, den Typ A mit Mangel an Gerinnungsfaktor VIII und den Typ B, bei dem der Faktor IX fehlt. Die Folge ist eine mehr oder weniger deutlich verzögerte Blutgerinnung mit starken Nachblutungen bei Verletzungen kleinerer oder größerer Art. Es werden Familien mit einer leichten Form der Bluterkrankheit von solchen mit schwerem Verlauf unterschieden. Bei den zuletzt genannten kommt es bereits im frühen Kindesalter zu Gelenkblutungen oder lebensbedrohlichen Blutverlusten nach z.T. geringen Verletzungen. Versteifungen der Gelenke, die Notwendigkeit von Transfusionen bzw. die häufige Anwendung von Gerinnungsfaktoren stellen belastende Maßnahmen dar. Sie vermögen zwar die unmittelbare vitale Bedrohung durch eine unstillbare Blutung zu verringern, bergen aber derzeit noch die Gefahr der Infektion mit Hepatitis oder AIDS in sich. Leichte Krankheitsformen werden häufig erst im Erwachsenenalter, z.B. bei einer Zahnextraktion erkannt, sie führen nur selten zu schweren Komplikationen. Für die verschiedenen Krankheits-Schweregrade werden verschiedene Gene bzw. möglicherweise auch verschiedene Mutationen innerhalb des Gens angenommen. Es wird gewöhnlich in den Familien jeweils die gleiche Form der Hämophilie beobachtet.
Die Erkrankung wird X-chromosomal rezessiv vererbt. Es erkranken in der Regel männliche Personen, deren Mütter meist gesunde Überträgerinnen sind. Bluterkranke Frauen haben einen Bluter zum Vater und eine Konduktorin zur Mutter. Gelegentlich wird auch bei Konduktorinnen eine Blutungsneigung beobachtet, – sog. „blutende Konduktorin“ – , in diesem Falle muß im Rahmen der X-Inaktivierung vor allem das „gesunde“ X-Chromosom inaktiviert worden sein, so daß eine Verminderung des Faktors VIII bzw. IX durch Überwiegen der Aktivität des X-Chromosoms zustande kommt, das die pathologische Anlage trägt.
it Hilfe molekulargenetischer Verfahren lassen sich heute Mutationen im Gen für Hämophilie nachweisen, und auf diese Weise kann herausgefunden werden, ob bei einer ersten betroffenen Person in einer Familie eine Neumutation vorliegt oder ob für Geschwister mit einem erhöhten Wiederholungsrisiko zu rechnen ist. Vorgeburtliche Untersuchungen stehen zur Verfügung, werden aber nur bei den wirklich schweren Verlaufsformen Anwendung finden.
K: Mitochondriale Gendefekte
Außer dem Zellkern enthält die Zelle Organellen, von denen die Mitochondrien über ein eigenes Genom verfügen. Es ist beim Menschen vollständig sequenziert, es enthält keine Introns. Die Vererbung mitochondrialer Gene kann nur über die Mutter erfolgen, da in den Samenzellen keine plasmatischen Elemente enthalten sind. Die wesentlichen Gene der Mitochondrien kodieren für die Atmungskette, für den ATPase-Komplex und andere energieliefernde Vorgänge. Es sind aber auch einige Krankheiten bekannt, die durch Mutationen oder Deletionen im mitochondrialen Genom bedingt sind, z.B. Lebersche Optikusatrophie (Blindheit im 2. Lebensjahrzehnt), Muskelschwäche, zerebrale Krampfanfälle .
Gerade bei der Leberschen Opticus Atrophie, die bei jugendlichen Erwachsenen manifest wird und zu schwerer Sehbeeinträchtigung führt, ist der Vererbungsmodus lange nicht verstanden worden. Man beobachtete, daß zwar Männer deutlich häufiger als Frauen betroffen waren, daß diese Männer aber die Krankheit nicht an ihre Nachkommen vererbten. Schwestern betroffener Männer waren häufig selbst betroffen, was nicht zur geschlechtsgebundenen Vererbung paßte. Heute weiß man, daß im Plasma der Eizelle – in den Mitochondrien – das Gen vorhanden ist und somit von den Müttern auf Söhne und Töchter übertragen werden kann.
V: Die koronare Herzkrankheit (KHK)
Im Gegensatz zu den bisher besprochenen monogen vererbten Krankheiten wird die KHK durch zahlreiche genetische („polygene Vererbung“) und umweltbedingte Faktoren begründet. Da die KHK eine der Haupt-Todesursachen unserer Wohlstandsgesellschaft ist, ist das Interesse an ihrer Aufklärung naturgemäß groß, so daß einige der bisherigen Beiträge der Gentechnik dazu hier dargestellt werden sollen.
Um überleben zu können, muß ein Organismus in seinem Innern ein wohldefiniertes stoffliches „Milieu“ aufrechterhalten („Homöostase“). Da der Stoff- und Energieaustausch mit der Umgebung jedoch diskontinuierlich erfolgt, haben die höheren Organismen im Laufe der Evolution Speichermechanismen und Regelkreise entwickelt, die es ihnen erlauben, solche „Spitzen“ z.B. an Nährstoffangebot oder -mangel abzufangen und zu kompensieren. Allerdings hat dieses Kompensationsvermögen Grenzen: Es gibt für alle Substanzen ein „zu viel“ und ein „zu wenig“, das für den Organismus nicht mehr tolerabel ist. Da die Speichermechanismen und Regelkreise in 1. Linie durch Proteine – Enzyme und Strukturproteine – aufrechterhalten werden, ist klar, daß die Fähigkeit des Organismus (fitness), die auf ihn einwirkenden Stoffe dem homöostatischen Gleichgewicht zuzuführen oder sie abzuwehren, genetisch determiniert ist und der genetischen Varianz der Individuen unterliegt.
Die epidemiologisch erfaßten Auslöser der KHK, die sattsam bekannten „Risikofaktoren“ wie Rauchen und Überernährung schlagen sich in entsprechend veränderten Serumspiegeln z.B. der Cholesterin-transportierenden LDLs und HDLs (low density und high density lipoproteins) oder des Gerinnungsfaktors Fibrinogen oder anderer Glieder der o.g. Speicher- und Regelmechanismen nieder; offenbar ist der Organismus mit der Kompensation dieser Umwelteinflüsse mehr oder weniger überfordert. Gleichzeitig weiß man aber, daß z.B. die genannten Serumspiegel genetisch determiniert sind und kennt einige der beteiligten Gene, z.B. das LDL-Rezeptor-Gen (Chromosom 19), den Fbrinogen-Gen-Locus auf dem langen Arm von Chromosom 4 oder das Apolipoprotein-apoAI-Gen auf Chromosom 11.
apoAI ist ein Baustein der HDLs, die für den „Abtransport“ des Cholesterins aus dem Organismus und seine Verstoffwechselung in der Leber sorgen (mit den LDLs wird den Geweben dagegen Cholesterin zugeführt), und der HDL-Spiegel ist bei Risikopersonen wie z.B. Rauchern erniedrigt und der LDL-Spiegel erhöht. Während Träger der Allelen „G/A“ oder „A/A“ also mit einem erhöhten HDL-Spiegel (und damit einem geringeren Infarktrisiko) leben als diejenigen mit den „G/G“-Allelen, wird dieser Effekt durch das Rauchen zunichte gemacht; welcher molekulargenetische Mechanismus dieser Beobachtung zugrundeliegt, ist noch nicht bekannt.
Ähnliche Varianten wie beim apoAI-Gen kennt man z.B. auch vom Fibrinogen-Gen, und so läßt sich für die verschiedenen Genotypen das KHK-Risiko abschätzen.
Allerdings sind bei dieser Abschätzung erst 2 der zahlreichen genetischen Determinanten des Herzinfarkt-Risikos erfaßt, was im Hinblick auf die Vielzahl der beteiligten Risikofaktoren (entsprechend der polygenen Vererbung) noch sehr grob ist.
Wie bereits erwähnt, ist das LDL-Rezeptor-Gen eine weitere Variable in diesem System, bei der eine Mutation bei heterozygoten Personen (ca. jeder 500. Mensch) ein erhöhtes Infarktrisiko, bei homozygoten Kindern jedoch Arteriosklerose und meistens einen frühen Tod nach sich zieht (familiäre Hypercholesterinämie). Zurückzuführen sind diese Mutationen wohl auf Rekombinationen zwischen Alu-Sequenzen, die über das Genom verstreut sind.