1. Kritik von Hartmut Ernst
Das letzte Romanfragment Kafkas zeichnet – wie kaum anders zu erwarten – ein Bild verkümmerten und frustrierten Lebens, das sich gegen sein sinn- und nutzloses Vegetieren nur dadurch wehrt, dass es zunächst annimmt, ein Ziel zu haben.
 
Der Landvermesser K. sucht Einlass in das Schloss – und erhält ihn nie. Das System, zu dem auch das am Fuße des Schlosses gelegene Dorf gehört, ist immanent nicht aus den Angeln zu heben und retardiert jede Bemühung des farblos gezeichneten Protagonisten, der sich jedwede Beziehung innerhalb der nur schwer durchschaubaren Systemstruktur zunutze machen will, sein ehrgeiziges Ziel zu erreichen. Es gibt Kontakte, aber keine Begegnungen. Man redet aneinander vorbei mit vielen Worten. Verstehen und Verständnis werden zur Illusion. Das ist der vollständig isolierte und entfremdete Mensch in einer kalten und auf ihre Funktion reduzierten Welt. Ein Alp, der längst aufgehört hat, Traum zu sein.
 
Man liest diesen Text sehr unterschiedlich. Die Kafka-Exegese ist bis heute uneins. Vielleicht ist dies das signifikanteste Merkmal kafkascher Texte: Dass man mit ihnen nicht fertig wird. Religiöse, existenzialistische, psychologische, materialistische, historische etc. Deutungen bemühen sich, der Sache auf die Spur zu kommen. Und doch bleibt zuletzt jeder Leser allein mit diesem Text, der wie ein kalter, erratischer Block in der Literaturlandschaft steht – ohne Vorläufer und ohne (nennenswerte) Resonanz.
Natürlich lassen sich konkrete Einzelheiten hervorheben: die tragische Ironie der verpassten Gelegenheit, die Unmitteilbarkeit der guten Absicht, die Verdinglichung menschlicher Beziehungen … Und doch ist all das noch nicht das Ganze des Textes, der in seiner sprachlichen Schmucklosigkeit die Sprachlosigkeit des auf sich selbst gestellten und zurückgeworfenen Individuums angesichts des unmenschlichen Mechanismus‘ einer nicht zu bewältigenden Welt vorstellt.
Doch wie schon die Türhüter-Legende im „Prozess“, so lässt auch das „Schloss“ die Möglichkeit offen, dass es ein Ziel, einen Weg, eine Erfüllung gibt – jedoch weltimmanent nicht einlösbar. Das Ziel wird immer verfehlt, die Botschaft immer überhört, das Lächeln immer missverstanden.
Als sein bester Freund, Max Brod, ihn einmal fragte: „Gibt es denn gar keine Hoffnung?“, soll Kafka geantwortet haben: „Aber ja! Es gibt unendlich viel Hoffnung. Nur nicht für uns.

2. Kritik von Dieter Wunderlich
Ende Januar 1922 reiste Franz Kafka zur Erholung nach Spindelmühle im Riesengebirge und quartierte sich für drei Wochen im Hotel „Krone“ in Friedrichstal ein. Dort schrieb er die Szene, in der K. in einem verschneiten Dorf eintrifft, die zum Beginn einer „Schlossgeschichte“ wurde.

Das Dorf – in dem energische Frauen den Ton angeben – liegt im Machtbereich eines Schlosses, dessen überperfektionierter und ausschließlich von Männern besetzter Verwaltungs- und Überwachungsapparat scheinbar ins papierene Chaos abzugleiten droht. Für K. sind Einzelheiten durchaus greifbar, aber das Übergeordnete bleibt unfassbar für ihn (und absurd für die Leser). Die Dorfbewohner stellen nicht viele Fragen und finden sich in dieser Welt offenbar gut zurecht, aber der Fremde verliert die Orientierung. Indem er gegen ihm unbekannte Regeln verstößt, brüskiert er ungewollt die Dorfbewohner. Diese wundern sich über seine in ihren Augen naiven und vergeblichen Versuche, zum Schloss vorzudringen, Beamte auf sich aufmerksam zu machen oder auch nur durch die Vermittlung subalterner Bediensteter endlich eine Existenzgründung genehmigt zu bekommen.

Über welche Machtmittel das „Schloss“ (oder das Gericht in „Der Prozess“) verfügen, erfahren wir nicht. Offenbar beanspruchen die Beamten feudale Rechte, besonders gegenüber den Frauen.
Was haben sie zu tun? Es scheint so bedeutsam und zeitraubend zu sein, dass sie sich nicht um K.’s Angelegenheit kümmern können. Vermutlich wäre es falsch, die beiden Romane als Satiren auf die Justiz und Behördenapparate aufzufassen: Franz Kafka zielt nicht auf konkrete Institutionen. Josef K. durchschaut nicht die Gesetze, nach denen das Gericht über ihn urteilt; K. versteht nicht, wie das Dorf vom Schloss aus regiert wird – aber sie richten sich beide nach der anonymen, unnahbaren Autorität, der sie hilflos ausgeliefert sind.

3 Kritik von Amazon
Die durch den Nihilismus entleerte göttliche Autorität sollte man sich als weltliche vorstellen: als väterliche oder politische Autorität. Viel deutet darauf hin, dass die Beamtenwelt und die Welt der Väter für Kafka die gleiche ist. Es handelt sich also um einen Vater Sohn Konflikt, der hier beschrieben wird.
Auf diese These aufbauend – im Sinne der damals populären Psychoanalyse Freuds – besteht der Konflikt zwischen „Vater und Sohn“ wegen Frieda. Der Junge K. raubt dem Älteren und Mächtigeren Klamm die Geliebte.

Ein weiterer Aspekt des Romans ist das unruhige „Nicht-Weiterkommen“. Den ersten Gang, den Kafka zum Schloss unternimmt, beschreibt Kafka wie folgt: „So ging er wieder vorwärts, aber es war ein langer Weg. Die Straße nämlich, die Hauptstraße, des Dorfes, führet nicht zum Schlossberg, sie führte nur nahe heran, dann aber, wie absichtlich, bog sie ab, und wenn sie sich auch vom Schloss nicht entfernte, so kam sie ihm auch nicht näher.“ K. läuft also eindeutig im Kreis und Kafka bringt aus diesem Kreis andere Kreise hervor, die sich labyrinthisch ineinander schlingen.

K. kommt, und wird als „Erneuerer“ empfangen. Er ist Landvermesser, bekommt sogar Diener vom Schloss zugeteilt. Gestärkt durch diese Stellung widersetzt er sich anfangs der Autorität, doch wird bald von den Dorfbewohner, durch ihre Andeutungen und Episoden, in ihr Labyrinth gezogen. Am Ende ist er so tief gesunken, dass er bei den Zimmermädchen des Herrenhofes hausen muss.

Die Gesetze des Schlosses sind nur Maßnahmen, um den Schein zu wahren. Kafka schreibt, dass das Schloss aus der Ferne einmal souverän aus, sozusagen frei und unbekümmert. Aus der Nähe betrachtet sah es ruinös – „der Anstrich war längst abgefallen und der Stein schien abzubröckeln“ – und wie eine Zusammenstellung aus Dorfhäusern aus. Beamte seien also einfache Menschen, die durch Geschick einen Schleier von Macht und Autorität um sich legen, der bei näherer Betrachtung alt und instabil ist.
Die Beamtenschaft hat also eine Macht, die sich durch Täuschungen, Irrationalitäten und Mystifikationen am Leben erhält. In Olgas Erzählungen berichtet sie, dass Barnabas nie wusste, ob er sich in den Kanzleien, einem Vorraum dieser oder überhaupt nicht im Kanzleitrakt befinde.

In dieser Erzählung tritt dem Helden die Macht des Schlosses auf ihrem Höhepunkt entgegen. Weil Amalia sich gegen das entehrende Ansinnen eines Beamten aufgelehnt hatte, wird ihre Familie von den Dorfbewohnern verteufelt: Die Dorfbewohner werden zu den Anwälten ihrer eigenen Unterdrücker. Auf einen Akt der Freiheit folgt ein Pogrom. Und die Familie begegnet dem mit Selbstanklage, die solche Zustände rechtfertigt und am Leben erhält.

Der Einzelne erscheint bei Kafka immer im Zustand der Ohnmacht gegenüber der Allmacht der Institutionen. Doch ist er emotional auf dies fixiert: sowohl in der Angst, von ihr zerstört zu werden, wie in der Sehnsucht, von ihr aufgenommen zu werden. Diese Ambivalenz gibt es auch heute noch: Jeder hat Angst, vom Staat und seinen Gesetzen erdrückt zu werden, sehnt sich aber andererseits nach Versorgung und Anerkennung durch denselben.
 
Kommentar
Jede der drei Rezension versucht das Gefühl der unheimlichen Kälte und der nicht fassbaren Macht des Schlosses darzustellen, welches den Leser von Beginn an packt. Immer wieder wird der Kampf des Einzelnen gegen das System, die Verschlugenheit der Vorgänge im Schloss und die stille Angst der Dorfbewohner erwähnt, um den unvollendeten Roman Kafkas zusammenzufassen, doch dies gestaltet sich, ob der ungreifbaren, düsteren Atmosphäre des Werkes, als sehr schwierige Aufgabe.

Die erste Rezension von Hartmut Ernst versucht der Hoffnungslosigkeit des Romans mit Wortspielen gerecht zu werden, jedoch gibt auch der Rezensent bald zu, dass man immer nur Einzelheiten herauspicken kann, aber nie den gesamten Text in all seiner Wirkung auf den Leser zureichend beschreiben kann. Ernst erwähnt auch die einsame Stellung, die dieses Werk Kafkas bezieht, ohne Vorläufer, ohne Reaktionen und ohne Leser, der den Text wirklich beenden und verstehen kann.

Abschließend beschreibt Ernst die Hoffnung in dem Werk, sie ist ständig da, doch dem Leser ist von Anfang an bewusst, dass sich ihre Erfüllung nie auf weltlicher Ebene abspielen wird und der Protagonist sein Ziel nicht erreichen kann.

Die zweite Rezension von Dieter Wunderlich geht viel mehr auf das Dorf und dessen Bewohner ein. Scharfsinnig erkennt Wunderlich, dass der Verwaltungsapparat des Schlosses hauptsächlich von Männern besetzt ist, während im Dorf vor allem weibliche Protagonisten dominieren, wie die Wirtin, Frieda und die Schwestern von Barnabas.

Auch die Beziehung zwischen K. und den Dorfbewohnern wird in dieser Rezension beschrieben und K.s Versuche zum Schloss vorzudringen und dessen Auswirkungen werden treffend zusammengefasst.

Weiters stellt der Rezensent die Frage nach der Art von Macht, welche das Schloss haben soll, findet aber auch keine Antwort. Laut Wunderlich ist dies auch nicht entscheidend, viel mehr soll der Roman die Hilflosigkeit des Individuums im Angesicht einer anonymen Autorität darstellen.

Die dritte Rezension eines Amazon.at-Kunden beleuchtet Kafkas Werk zu Anfang von einer ganz anderen Seite: Die Beziehung zu der ehemaligen Geliebten Klamms, Frieda, wird als Vater-Sohn-Konflikt gedeutet, in dem der Junge K. dem „Vater Klamm“ die Geliebte entreißt. Das Schloss stellt somit die väterliche Autorität dar, unter der Kafka bekannterweise sein Leben lang gelitten hat.

Ein weiterer neuer Aspekt dieser Rezension ist das „Nicht-Weiterkommen“. Dies zeige sich vor allem in der Szene, in der K. die Straße zum Schloss nimmt, aber nie dort ankommt, weil die Straße das Schloss nicht erreicht. Der Rezensent sieht dies als Sinnbild für den gesamten Roman, in dem K. immer nur im Kreis läuft, ohne zu erkennen, dass er sein Ziel nicht erreichen kann.

Auch auf die Stellung K.‘s im Dorf geht der Kunde ein: Wird K. anfangs noch als eine Art „Erlöser“ empfangen, verliert er durch seine Hartnäckigkeit und Uneinsichtigkeit schnell an Respekt und ist zu guter Letzt der Abschaum des Dorfes.

Am Ende beleuchtet der Kunde, wie seine Vorgänger, die Position und Rolle des Schlosses, beschreibt aber entgegen der Anderen die Täuschung, zu der der ganze Verwaltungsapparat des Schlosses schlussendlich dient. Abschließend vergleicht er K.s Kampf gegen die Allmacht der Institutionen noch mit der Angst unserer heutigen Bürger, von dem System, von dem sie aber abhängig sind, erdrückt zu werden und kann damit als Einziger einen persönlichen Bezug zwischen K. und dem Leser aufbauen.

Ich persönlich habe nach dem „Prozess“ und „Amerika“, Kafkas „Schloss“ als das kälteste Werk unter den drei unvollendeten Romanen empfunden. Der Protagonist wird nicht nur von einer undurchschaubaren Übermacht bedroht, was auch in den zwei anderen Romanen der Fall war, sondern muss sich auch noch als Neuankömmling in der Fremde beweisen. Obwohl er recht rasch eine neue Lebensgefährtin findet, fühlt sich hier für den Leser die Einsamkeit des Hauptcharakters am stärksten und allumfassendsten an. Auch das Schloss, das ja eigentlich (angeblich) anfangs nach K. verlangte, wirkt noch abweisender und verschlungener als das Gericht im „Prozess“, beziehungsweise das Hotel in „Amerika“. Dies wird durch die physische Distanz zwischen K. und dem Schloss zusätzlich verstärkt.

Der Text ist insgesamt recht handlungsarm, es gibt kaum Wendungen oder Fortschritte, nur die Verzweiflung K.s wächst immer mehr, während er im Dorf herumgereicht und immer wieder abgewiesen wird. Umgekehrt proportional zu seiner wachsenden Verzweiflung sinkt K.s Stellung immer mehr und erreicht im undankbaren Posten des Schuldieners ihren Tiefpunkt.

Neben dem anödenden Verlauf der Geschichte war mir diesmal auch der Protagonist am wenigsten sympathisch. Er ist aufdringlich, vorlaut und respektlos und erwartet oft Hilfe von Leuten, die ihm nichts schuldig sind. Außerdem schätzt er seine Position vollkommen falsch ein und bald kommen Zweifel auf, ob es sich bei K. überhaupt um einen Landvermesser handelt.

Positiv ist Kafkas unnachahmlich präziser und gewählter Schreibstil zu bewerten, der nie Zweifel über die Absichten des Autor aufkommen lässt, doch ansonsten kann ich dem Roman nicht viel abgewinnen. Die düstere Atmosphäre, die mich vor allem im „Prozess“ begeistert hat, rutscht hier in eine konstante Öde ab, die dem Leser einiges an Durchhaltevermögen abverlangt. Die Macht des Schlosses ist absolut spürbar und vielleicht hätte auch ein vollendeter Schluss dem Text noch viel an Sinn hinzufügen können, doch in der Form spricht mich das „Schloss“ von den drei Kafka-Romanen am wenigsten an.

Wurde dir weitergeholfen? Hilf anderen Schülern!

Referate hochladen