Franz Werfel
Erklärung des Titels:
Kleinbürger hießen ursprünglich jene Angehörigen des Bürgertums, die dessen unterster Schicht angehörten, wie Handwerker, kleine Kaufleute, Volksschullehrer u.ä.
Dass der „Tod eines Kleinbürgers“, der von den Großbürgern kaum beachtet wird, doch soviel Aufsehen erregen kann, zeigt diese Erzählung von Franz Werfel.
Schauplatz:
Wien
Zeit:
kurz nach dem 1.Weltkrieg
Zeitspanne:
ein paar Monate
Milieu:
Kleinbürgerschicht
Biografie:
Franz Werfel wurde am 10.September 1890 in Prag geboren. Er entstammte einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie in Prag und kam schon während seines Studiums in Prag, Leipzig und Hamburg mit den Dichtern des sogenannten Prager Kreises, wie Franz Kafka und Max Brod, in Berührung. Auf Wunsch seines Vaters arbeitete Werfel zunächst in einer Speditionsfirma und absolvierte seinen Militärdienst. Zwischen 1912 und 1914 war er als Verlagslektor in Leipzig tätig. Von 1915 bis 1917 nahm Werfel als Soldat am 1.Weltkrieg teil und lebte anschließend als freier Schriftsteller in Wien.
Inhalt:
Karl Fiala, ein frühzeitig pensionierter Beamter, lebt mit seiner Frau Marie, seinem an Epilepsie leidendem Sohn Franz und seiner Schwägerin Klara in einer kleinen Wohnung in Wien kurz nach Ende des 1. Weltkrieges. Er schließt eine Versicherung ab, die ihm die Auszahlung einer beträchtlichen Summe Geld verspricht, wenn er das 65. Lebensjahr erreicht hat. Doch leider meint es das Schicksal nicht besonders gut mit ihm und er muss ein paar Wochen vor seinem 65. Geburtstag ins Krankenhaus eingeliefert werden, da die Ärzte diverse Krankheiten an ihm entdeckt haben. Mit der Zeit verschlechtert sich sein Zustand zunehmend, doch durch seinen starken Überlebenswillen schafft es Karl Fiala bis zum 5. Januar, seinem Geburtstag, am Leben zu bleiben und somit die Versicherungssumme für seine Familie zu erhalten.
Personen:
Bis zu seiner frühzeitigen Pensionierung am Ende des 1. Weltkrieges hatte der Mann ein gesichertes Einkommen um seine Familie zu ernähren. Die Pensionierung ist auch der Grund, warum die Familie Fiala in eine kleinere Wohnung ziehen muss. Karl Fiala war stets ein arbeitsamer Mann und übte seinen Beruf gewissenhaft und pflichtbewusst aus, bis er aus unbekannten Gründen vorzeitig in Pension geschickt wurde. Wie alle Menschen damals hängt auch er der Vergangenheit nach, die für ihn um einiges besser war. Dazu gehört auch sein täglicher Rundgang durch die Wohnung, bei dem er immer wieder am Bild seiner Verabschiedung vorbeikommt und dort seinen Gedanken an die gute alte Zeit nachhängt: „Das Bild ist ein Altar. Kraft und Freude strömt es aus.“ (Werfel, Franz; Der Tod des Kleinbürgers.1959 Philipp Reclam; S.8). Erst an dieser Stelle wird klar, wer die eigentliche Schuld an Fialas Pensionierung trägt. Nicht die schlechten Lebensbedingungen, Massenentlassung oder die Inflation waren der Grund dafür, sondern ein gewisser Herr Pech, der sein Protektionskind unterbringen wollte. Auf ihn ist Karl Fiala nicht besonders gut zu sprechen und auch später im Krankenhaus, als er schon kurz vor seinem Tode steht, hat er noch einen Traum, in dem Herr Pech eine große Rolle spielt.
Marie Fiala:
Herrn Fialas Frau Marie musste in ihrem Leben nie besonders viel arbeiten, da sie sich immer darauf verlassen konnte, dass ihr Mann genügend Geld nach Hause bringt um die Familie zu ernähren. Aus unbekannten Gründen, die auch im Laufe des Werkes nicht näher erklärt werden, hat sie ihre Schwester Klara mit ins Haus gebracht. Eine Möglichkeit wäre, dass sie Mitleid mit ihr hatte, weil Klara einsam war und niemanden hatte, der sich um sie kümmerte. Obwohl sie keine besonders resolute Frau ist, scheint es, als wäre sie trotzdem der dominantere Part in dieser Ehe. Doch wenn es zu Auseinandersetzungen mit Klara kommt, ist sie Marie diejenige, die kein Durchsetzungsvermögen zeigt. Sie hat direkt Angst vor ihr was der Satz: „Frau Fiala hat zwar vor ihrer Schwester Furcht, und solange das Wort nicht ausgesprochen war, hat auch sie sich des Allenseins mit ihrem Alten gefreut, aber jetzt ist sie leider in die ewige Verteidigungsstellung gedrängt. Denn Klara bildet das Streitobjekt zwischen den Gatten.“ (a.a.O.; S.11). An dieser Stelle merkt man auch deutlich, dass es ihr doch nicht so recht ist, dass ihre Schwester in derselben Wohnung lebt wie sie, da sie deshalb öfters Streitigkeiten mit ihrem Mann hat. Aber trotzdem verteidigt sie die Schwester mit allen Mitteln. Und auch hier weiß man nicht so genau, warum sie dies eigentlich tut. Entweder, weil sie es nicht übers Herz bringt Klara aus der Wohnung zu verbannen oder, weil sie sich sonst vor ihrem Mann eingestehen müsste, dass es Fehler war sie bei sich aufzunehmen.
Klara:
Von Anfang an erweckt Klara keinen guten Eindruck. Schon der erste Satz, in dem sie etwas näher beschrieben wird zeigt, dass sie eine eher unsympathische Person ist: „ Die Klara, das Luder, verköstigt sich in den Häusern, wo sie bedient.“ (a.a.O.; S.4). Aber was ist der Grund dafür, dass sie solch einen Charakter angenommen hat? Sie ist verbittert und vom Leben enttäuscht, und genau das spiegelt sich in ihrer Verhaltensweise den anderen Menschen gegenüber wider. Sie sucht direkt den Streit und die Konfrontation mit den Leuten, wahrscheinlich nur, um etwas Aufmerksamkeit zu erhaschen, die ihr dann auch zuteil wird, aber dabei hinterlässt sie einen schlechten Eindruck bei den meisten, was aber vor allem daran liegt, dass sie argwöhnisch und misstrauisch ist und immer alle anderen beschuldigt, ihr etwas stehlen zu wollen. Dabei handelt es sich um ganz banale und belanglose Dinge, die sie für wertvoll ansieht, wie beispielsweise der Vorkriegsspagat, den sie in einer Schachtel aufbewahrt hat, die ihr abhanden gekommen ist. Sie selbst fühlt sich von den Menschen ungerecht behandelt und sieht sich als das Opfer: „ Unter böse Menschen sei sie geraten. Lang werde sie´s nicht mehr aushalten. Es werde sich auch anderswo ein Schlafplatz finden. Keine Diebin sei sie, aber von Dieben allorts umgeben.“ (a.a.O.; S.22). Doch in Wahrheit ist sie die Diebin und diejenige, die sich auf Kosten anderer ein schönes Leben zu machen versucht: „ Kaum weiß sich Klara allein, so stürzt sie sich auf die Verstecke, wo sie die verschleppten Süßigkeiten mutmaßt. Beim ersten Zugriff sind sie entdeckt. Drei Bäckereien nimmt sie vom Teller, eine lässt sie übrig. Ihren Raub aber versteckt sie in einer der vielen Sardinenbüchsen, die ihren Eigentumswinkel zieren. Dort wird auch dieses Gebäck vermodern, wie so vieles andere.“ (a.a.O.; S.22/23). Durch ihre Art macht sie den Menschen das Leben zur Hölle und merkt es noch nicht einmal, da sie egoistisch ist und nur auf ihr eigenes Wohl bedacht ist. Wie es anderen geht ist ihr vollkommen gleichgültig. Sie ist immer bösartig ihrer Schwester gegenüber, obwohl diese sie in Zeiten der Not bei sich aufgenommen hat und schikaniert sie wann sie nur kann, was in der Szene, als Marie ihrer Schwester die Polizze zeigt, deutlich zum Ausdruck kommt. Zuerst versucht sie noch selbst irgendwie an dieses Geld zu kommen, aber Frau Fiala wird misstrauisch und darum antwortet Klara voll Bosheit und Hohn in der Stimme: „Da! Glaubst du, ich will deinen Schmutz behalten! Kriegst ja eh nichts dafür!“ (a.a.O.; S.54). Und auch noch, als ihr Schwager gestorben ist, versucht sie Gewinn daraus zu schlagen: „ Klara, die so oft bemerkt hatte, dass die Hand des Gequälten etwas unterm Kissen suche, und die, wenn sie ein Traum nicht täuschte, einmal ein Goldstück hervorblinken sah.“ (a.a.O.; S.63). Sie greift unter den Polster, da sie sich etwas Wertvolles erwartet, wird aber von Franzl zurückgehalten, der sie genau beobachtet hat.
Franzl:
Franzl ist Epileptiker und schon allein deshalb hat er es im Leben schwerer als andere Menschen in seinem Alter. Er ist ein einfacher und in sich verschlossener Mann, dessen Existenz in der harten Realität Wiens zu dieser Zeit noch problematischer ist als bei anderes Familienmitgliedern. Aufgrund seiner Arbeitslosigkeit ist er völlig auf seine Eltern angewiesen, die ihn auch in allem, was er tut unterstützen. Vor allem sein Vater ist sehr auf sein Wohl bedacht und versucht ihm das Gefühl zu geben, gebraucht zu werden. Ohne ihn würde er in eine Anstalt geraten. Trotzdem versucht er etwas gegen seine schwere Lage zu tun, auch wenn es eigentlich keine Sinn hat, da ihn sowieso niemand einstellen wird: „ Franzl ist müde. Den ganzen tag hat er sich vor Ankunftsorten für Arbeitslose und bei Stellenvermittlungen herumgetrieben. Er weiß, dass er keine Arbeit finden wird, dass all sein Umherstehen sinnlos ist. Aber die Zeit, die lange, böse, bringt er um damit.“
Er ist sich seiner Situation und der harten Realität durchaus bewusst und gibt trotzdem nicht auf um vielleicht doch noch irgendwann Arbeit zu finden.
Problematik:
In seinem Werk „Der Tod des Kleinbürgers“ geht der Autor Franz Werfel besonders detailliert auf die Lage der Bevölkerung Wiens nach dem 1.Weltkrieg ein. Dies ist eine Zeit, in der die politischen und wirtschaftlichen Ereignisse sehr stark in das private Leben einfacher Menschen eingegriffen haben, da die immense Inflation allgemeine Armut verursachte. Die alte Weltordnung liegt in Trümmern. Nichts ist mehr so, wie es vorher einmal war. Das mühsam angehäufte Geld verliert an Wert und somit sind auch diejenigen davon betroffen, die früher angesehene Bürger waren. Auch Leute von Rang und Namen bleiben nicht von dieser weit um sich greifenden Welle der Armut verschont: „ Andern geht es schlechter. Wie viele liegen auf der Straße! Und Herrschaften, die unendlich höher standen als er: Offiziale und Majore! Was da geschehen ist in diesen Jahren, wer kann das verstehen?“ (a.a.O.; S.3). Aber auch der Protagonist der Erzählung, Karl Fiala, muss irgendwie mit dieser neuen Situation und der schweren Realität klarkommen. Doch im Gegensatz zu anderen hat er eine sichere Stelle in der Zeit, wo viele entlassen werden, und seine Familie muss nicht Hunger leiden. Aber trotzdem muss auch er sich durch die Inflation einschränken und in eine neue, kleiner Wohnung ziehen.
Form und Sprache:
„Der Tod des Kleinbürgers“ ist eine Erzählung des Schriftstellers Franz Werfel und in sieben Kapitel unterteilt. Größtenteils in Hochsprache verfasst vermittelt das Werk einen sehr ernsten Eindruck und erst beim näheren Hinsehen fallen einem eine gewisse Ironie und die unzähligen Metaphern auf, die der Autor hier verwendet. Beispielsweise die Szene, als Marie und Klara den Zentralfriedhof besuchen ist gespickt von metaphorischen Bildern, um nur eine Stelle zu nennen: „Und über der weiten flüsternden Fläche tauchten langsam, eins fürs andere die schwächlichen Lampen und Lichte auf, unzählige, ein geheimnisvolles Feuerwerk der Tiefe, eine zärtlich-mystische Illumination, dicht am Boden hinkriechend, Grubenlampen vor dem Eingang des Bergwerks, Irrlichter eitlen Erinnerns, zuckend im Qualm der Jahreszeit.“ (a.a.O.; S.31) Auch die feine Ironie beweist uns Franz Werfel auf dem Friedhof: „Auf dem Jahrmarkt der Toten, bei der gut frequentierten Herbstmesse der Seelen ging es hoch her, und dem und jenem Schwachmatikus mochte da ein Unfall zustoßen, so dass er das nächstemal sich nicht mehr unter den Feiernden fand, sondern bei den Gefeierten dort unten.“ (a.a.O.; S.30).
Epoche:
Die Darstellung Wiens zu dieser Zeit wird vom Autor ziemlich realistisch geschildert, weswegen man dieses Werk nicht eindeutig zu der Epoche des Expressionismus zählen kann. Es steht an der Grenze zwischen expressionistischer Gestaltung und dem späten reifen Realismus Werfels.
Wirkung auf den Leser:
Dem Leser wird in dieser Novelle die wirtschaftliche Krise nach dem Ersten Weltkrieg vor Augen geführt. Er soll versuchen, sich mit der Person des Karl Fiala zu identifizieren und sich in dessen Lebenssituation einfühlen zu können. Wie ist es, wenn man es schwer hat, seine Familie zu dieser Zeit durchzubringen, wenn man weiß, dass man dem sicheren Tod ins Auge sieht und es trotzdem schafft, so lange zu leben, dass die Familie die Versicherung ausbezahlt bekommt? Die Menschheit soll sich ein Beispiel an dem alten Mann nehmen, der, nicht wie seine Leidensgenossen, uneigennützig handelt und sich nicht nur um sich selbst kümmert, sondern sich nur für den Erhalt und das Wohlergehen seiner Liebenden einsetzt.