Professor Raat, ein wilhelminischer Schullehrer, wird vom Gymnasium und der ganzen Stadt nur Unrat genannt. Der gewohnte Ruf übt auf den alten Lehrer seine Wirkung noch so gut aus, wie schon vor 26 Jahren. Man braucht nur auf dem Schulhof, sobald dieser vorbeikommt einander zuzuschreien: "Riecht es hier nicht nach Unrat!" und schon zuckt der Alte heftig zusammen. Prof. Unrats einziges Bestreben ist es, die Schüler zu fassen; ihnen zu beweisen, daß sie ihn mit dem Wort "Unrat" gemeint haben, und ihnen dafür ihr Fortkommen zu erschweren, wenn nicht gar unmöglich zu machen. So sorgt er als Lehrer dafür, daß alle, die ihn bei seinem Spottnamen nennen, das Ziel der Klasse nicht erreichen. Unrat beurteilt ein Jahr mit gut oder schlecht, je nachdem, ob er einige "faßte", oder ihnen nichts beweisen konnte. Unrat, der sich von den Schülern hinterrücks angefeindet, betrogen und gehaßt weiß, behandelt sie seinerseits als Erbfeinde, von denen man nicht genug bei Tests hineinlegen und vom Ziel der Klasse zurückhalten kann.
Nach diesem Prozeß, bei dem er eine Rede führt, die sich gegen die großbürgerliche Kaste, den dekadenten Adel und die korrumpierten Kleinbürger wendet, die sich repräsentativ in den drei pubertären Sündenböcken Lohmann, von Erztum und Kieselsack zeigen, wird Unrat von der Schule entlassen. Unrat und die Künstlerin Rosa Fröhlich versöhnen sich wieder und heiraten. Nun wandelt sich der Tyrann zum Anarchisten (= Es gelten keine Gesetze zur Ordnung des Lebens). Die Ideale der bürgerlichen Umwelt, die er früher gepredigt hat, sind jetzt Opfer seiner Rachsucht. Und die zielt auf Entsittlichung der Stadt. In seiner "Villa vor dem Tor" frönen die Bürger dem Glücksspiel; sie wird zu einer Stätte nächtlichen Vergnügens, was natürlicherweise noch mehr Getuschel in der Kleinstadt zur Folge hat. Als Unrat vor lauter Haß gegen Lohmann ihm seine Brieftasche stiehlt, wird er selbst dabei gefaßt und verhaftet, und die Stadt kann vom Druck ihres eigenen Lasters befreit zur scheinheiligen Ordnung zurückkehren.
Stilistik
Die Handlung wird weitgehend von einer Schulgeschichte getragen, die mit einer ungewöhnlichen Liebesgeschichte verknüpft ist. Die gradlinige Erzählweise und der mäßige Umfang (das Taschenbuch hat 153 Seiten) beugen jegliche Überforderung bei der Lektüre vor. Zudem spricht der satirische Stil meiner Meinung nach jugendliche Leser an. Allerdings ist zu bedenken, daß die Gesellschafts- und Schulverhältnisse der Gegenwart eine Identifikation mit den Schülern im Roman beeinträchtigen.
Die Handlung führt zu einer doppelte Negation der Satire auf die kleinstädtisch-bürgerlichen Verhältnisse und dem Vexierbild des “Menschenfeindes”
Biographische Bezüge
Biographie des Autors Heinrich Mann
Heinrich Mann: 1871 (Lübeck, Deutschland) – 1950 (Santa Monica, Kalifornien)
Heinrich Mann begann nach dem Abgang vom Gymnasium eine Buchhandelslehre, 1891 bis 1892 volontierte er im S. Fischer Verlag, Berlin, gleichzeitig Gasthörer an der Universität; freier Schriftsteller; 1893 Parisaufenthalt, bis 1914 längere Italienaufenthalte, später München, ab 1928 Berlin; 1931 wurde er zum Präsident der Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste zu Berlin gewählt. Die Verfilmung seines Romans Professor Unrat (unter dem Titel "Der blaue Engel" mit Marlene Dietrich) machte ihn weltberühmt. Februar 1933 erzwungener Ausschluß aus der Akademie; Emigration nach Frankreich (Paris, Nizza), dann über Spanien und Portugal 1940 nach Kalifornien. 1949 nahm er die Berufung zum Präsident der neu zu gründenden Deutschen Akademie der Künste zu Berlin/DDR an. Heinrich Mann starb 1950 in Santa Monica/Kalifornien. Seine Urne ist auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin beigesetzt.
In der Romantrilogie "Das Kaiserreich" beschreibt er die Zustände im wilhelminischen Deutschland aus einer sehr kritischen Perspektive.
In der Emigration entstehen seine beiden Romane "Die Jugend des Königs Henri Quatre" und "Die Vollendung des Königs Henri Quatre"; beide kann man als Gleichnisse vom guten König bezeichnen. Aus der Frühzeit von Heinrich Mann stammt "Professor Unrat" (der unter dem Titel "Der blaue Engel" verfilmt wurde) und der neben "Der Untertan" zu seinen bekanntesten Romanen gehört und sich mit dem selbstgefälligen Bürgertum auseinander setzt. In seinen Memoiren "Ein Zeitalter wird besichtigt" läßt er die deutsche Geschichte und die eigene Biographie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts noch einmal Revue passieren.
Nach dem Ende des Dritten Reiches fand in der DDR eine rege Beschäftigung mit seinem Werk statt.
Bewertungen
Angeregt durch eine Zeitungsmeldung, schrieb Heinrich Mann den Roman "Professor Unrat oder das Ende eines Tyrannen" 1903 und 1904 in Florenz und Ulten, Südtirol; 1905 erschien das Buch in München bei Albert Langen, der bereits die vorausgehenden Romane des Autors – “Im Schlaraffenland”, “Die Göttinnen oder die drei Romane der Herzogin von Assy” und “Die Jagt nach Liebe” herausgebracht hatte. Die Niederschrift nahm nach Aussage des Autors nur wenige Monate in Anspruch. Doch blieb Professor Unrat zunächst unbeachtet – wie die meisten Werke Heinrich Manns vor dem ersten Weltkrieg. Mit dem Einverständnis des Autors entstand 1931 eine Filmfassung von Carl Zuckmayer unter dem Titel "Der blaue Engel" (Regie: Josef von Sternberg, in den Hauptrollen Emil Jannings und Marlene Dietrich). Hier endet der Gymnasialprofessor aber auf klägliche und mitleiderregende Weise. Durch den Film sieht man Heinrich Manns Werk als karikierende Schulsatire. Bei genauer Betrachtung aber ist es möglich, die Doppelsinnigkeit, die in siebzehn Kapiteln locker erzählt wird, zu sehen. Die Handlung (Ein tyrannischer verknöcherte Gymnasialprofessor lernt bei der nächtlichen Jagd auf Schüler die Künstlerin Rosa Fröhlich kennen, verliebt sich in sie, wird geächtet und verliert deswegen seine Stellung) bewahrt ganz den Anschein satirischer Lächerlichkeit; daß aber diese "lebensfeindliche" Lehrerfigur unversehens die bürgerliche Umwelt enthemmt und eine anarchistische Revolte gegen sie unternimmt, verstört das Lachen des Lesers.
Skizze eines produktorientierten Interpretationsansatzes
Mit dem 1904 verfaßten Professor Unrat, dessen Niederschrift nach eigener Aussage des Autors nur wenige Monate in Anspruch nahm, wandte sich Heinrich Mann unmittelbar der deutschen Provinz zu. Bislang hatte er die bürgerliche Gesellschaft in seinen seit 1900 veröffentlichten Romanen vorwiegend an ihrem ästhetischen Erscheinungsbild gemessen und ihren spätzeitlichen Verfallszustand analysiert.
Zunächst scheint sich die Geschichte eines wilhelminischen Schullehrers in einer norddeutschen Kleinstadt (die im übrigen nicht schwer als das Lübeck des Schülers Heinrich Mann zu vertifizieren ist) scheint sich den Schulsatiren Wedekinds, Thomas, Hauptmanns und Hesses zuzuordnen. Das Werk als eine karikierende Schulsatire zu verstehen, wird vor allem durch die entstandene Filmfassung Carl Zuckmayers von 1931 unter dem Titel Der “Blaue Engel” unterstrichen. Doch eine werkgetreuere Interpretation vermag die Doppelsinnigkeit der in siebzehn Kapiteln aneinandergereihten Einzelzehnen zu beschreiben – entgegen der im Film nivellierten Schlußwendung (ein Gymnasiallehrer endet auf klägliche und mitleiderregende Weise).
Er verirrt sich auf der Suche nach widerborstigen Schülern in die Spelunke “Zum blauen Engel”, wo die leichtlebige “Künstlerin” Rosa Fröhlich gastiert, und aus der Sucht heraus, die Schüler zu “fassen”, es den vermeintlich Aufsässigen zu “beweisen”, in einen fremdartigen, verwirrend-erotischen Dunstkreis; so wird seine Machtvorstellung allmählich von bislang zurückgedrängter, triebhafter Sinnlichkeit unterhöhlt. Je öfter er bei Rosa Fröhlich verkehrt, je mehr seine autoritäre Stellung bei den Schülern dadurch untergraben wird, desto näher rückt er den von ihm Unterjochten; der in seiner Macht geschwächte Tyrann begegnet seinen Untertanen auf der gleichen Stufe: als ein Untertan. Als dann schließlich “die überreizte Zärtlichkeit des Menschenfeindes” über alle Hemmungen und Konventionen siegt und Unrat die nach Sicherheit sich sehnende Fröhlich heiratet, ist seine bürgerliche Stellung verloren. Verteidigt der anfangs im Prozeß noch die geheiligten Güter staatserhaltender Gesinnung, so bricht im folgenden der Haß auf die bürgerliche Gesellschaft, die ihn geprägt hat, durch: In einer geifernden Rede wendet sich Raat gegen die großbürgerliche Kaste, den dekadenten Adel und die korrumpierten Kleinbürger, wie sie sich in den drei pubertierenden Sündenböcken Lohmann, von Erzum und Kieselack repräsentativ wiederfinden.
Je mehr Unrat die “Entsittlichung der Stadt vorantreibt, desto mehr fällt er jedoch seiner eigenen Rachsucht zum Opfer. Seine Seele, “ihre Abgrundflüge, ihr fürchterliches Auskohlen, ihr über alles hinaus selber Verdammtsein”, legt die Disposition des Satirikers bloß, der – wie seine Hauptfigur – an dieser von ihm analysierten Gesellschaft leidet. Jedoch kann “all dies fanatisch Überkochende”, in expressionistischen Metaphern zum Sprachbild abgründiger Dämonie erhöht, nicht letztendlich die Gesellschaft gefährden, da die vormalige bürgerliche Fassade der Wohlanständigkeit renoviert werden kann, als Unrat eine Brieftasche stiehlt und dabei verhaftet wird.
Die doppelte Negation, der Satire auf die kleinstädtisch-bürgerlichen Verhältnisse und dem Vexierbild des “Menschenfeindes”, steht in diesem Roman, zum ersten mal in Heinrich Manns Werk, eine Figur gegenüber, die sich in dem Roman später ausformulierter demokratischer und sozialethischer Utopie fügt: In der Gestalt Rosa Fröhlich, dem Mädchen aus dem Volk, beschrieb der Autor, noch weitgehend ironisch gebrochen, eine Repräsentantin humanen “Mitleids”; in der Figur des jungen Literaten Lohmann, durch den der Erzähler den Professor analysieren läßt und der mit dem Lübecker Schüler Heinrich Mann verblüffende Ähnlichkeiten aufweist, stellt er kritisch den wirklichkeitsfernen Ästheten dar und festigt seinen Standort als sozialkritischer Realist.
Professor Unrat findet sein stoffliches und thematisches Pendant in dem 1914 fertiggestellten “Der Untertan”, in der das Tyrann-Untertan-Verhältnis von Mann vor der selben Lübecker Kulisse wieder aufgegriffen wurde, indem er aber weitaus schärfer gegen den Untergang liberaler Humanität protestierte.
Filmkritik
Professor Unrat rückte ins volle Licht öffentlichen Interesses, als der österreichisch-amerikanische Regisseur Josef von Sternheim das Buch 1930 verfilmte und dem Titel “Der blaue Engel” zu einem Welterfolg verhalf. Die Rezensionen nach der deutschen Uraufführung in Berlin am 1. April 1930 schlugen allerdings mitunter einen kritischen Ton gegenüber dem Film an. Der Rezensent der “Weltbühne” sprach von einem “Film gegen Heinrich Mann”. “Bei der Ufa ist aus der funkelnden Satire die sentimentale Katastrophe einer gutbürgerlichen Existenz geworden, aus dem gespenstischen Scholarchen eine verwässerte Volksausgabe von “Traumulus”” (Werner, 1977: 120f.). In einem Beitrag für die “Neue Rundschau” betrachtete Siegfried Kracauer den Film als eine “Privattragödie, die in dieser Fassung und erst recht heute niemanden ernstlich etwas angeht”. Er vermißt die Darstellung der “sozialen Verhältnisse, die den Gymnasialprofessor und die Diseuse zusammenführen” und tadelte die Vernebelung der Situation von 1930 (Werner, 1977: 122f.).
Josef von Sternberg über seinen Film “Der blau Engel”: “Bei meiner Umwandlung des Romans zu einem Film, der meinen Vorstellungen von visueller Poesie entsprach, fügte ich die Figur des Clowns ebenso neu ein wie alle Episoden und Einzelheiten, die den Professor schließlich in die Zwangsjacke bringen. Da es im Vorspann des Films heißt, er sei eine freie Adaption des Romans von Heinrich Mann nach einem Drehbuch von Robert Liebmann in der Bearbeitung von Vollmoeller und Zuckmayer, ist wohl eine Erklärung notwendig (…) Der Regisseur ist der eigentliche Autor eines Films (…) Welche Vorzüge der “Blaue Engel” auch immer aufweist und welche Fehler (und es gibt nicht wenige) – es sind meine. (…) Den brillianten Dramatiker Carl Zuckmayer hatte man aufgefordert, seinen Namen für die Bearbeitung herzugeben, da man fürchtete, meine radikalen Änderungen in Heinrich Manns Roman würden die deutsche Presse erregen, nicht nur weil zum ersten Mal ein Amerikaner nach Deutschland geholt worden war, um den wichtigsten Film zu drehen, sondern auch, weil Heinrich Mann politisch auf der schwarzen Liste der nationalsozialistischen Presse stand.
Leseempfehlung
Ich denke, daß der Roman “Professor Unrat oder das Ende eines Tyrannen” durchaus empfehlenswert ist; gerade für Schüler: die Handlung wird weitgehend von einer Schulgeschichte getragen, die mit einer ungewöhnlichen Liebesgeschichte verknüpft ist. Die gradlinige Erzählweise und der mäßige Umfang (das Taschenbuch hat 153 Seiten) beugen jegliche Überforderung bei der Lektüre vor. Zudem spricht der satirische Stil meiner Meinung nach jugendliche Leser an. Allerdings ist zu bedenken, daß die Gesellschafts- und Schulverhältnisse der Gegenwart eine Identifikation mit den Schülern im Roman beeinträchtigen.
Der Bruder von Thomas Mann ist bei uns nicht so bekannt. Wenn man sich jedoch für sozialkritische Literatur interessiert und wer Einblick in die wilhelminische Seele bekommen möchte, der sollte Heinrich Mann lesen, insbesondere den "Untertan" und "Professor Unrat". Beide Romane sind nicht nur spannend geschrieben, sondern auch nicht allzu schwer zu lesen.