1 Interpretation des Gedichtes „Die Beiden" von H. v. Hofmannsthal
Das 1896 entstandene Gedicht „Die Beiden" von Hugo von Hofmannsthal handelt von der Schwierigkeit einem anderen Menschen die eigenen Gefühle zu offenbaren und sich dadurch verletzbar zu machen.
In dem gesamten Gedicht tritt kein Sprecher auf, wodurch es unpersönlich wirkt und dem Leser eine distanzierte und alles überblickende Position verschafft. Die darstellende Schilderung der äußeren Situation in allen drei Strophen verstärkt diesen Eindruck von Unnahbarkeit zusätzlich. Jedoch scheint sich besonders in der dritten Strophe die innere Situation der beschriebenen Personen „Er"(V.6) und „Sie"(V.1) in der aufgezeigten äußeren Situation widerzuspiegeln. Dies mindert das Gefühl von Distanz ein wenig und lässt das Gedicht auch expressiv wirken, obwohl in ihm kein lyrisches Ich oder lyrisches Wir seine Empfindungen ausdrückt.
„Die Beiden" besteht aus drei Strophen, von denen die ersten beiden jeweils vier und die letzte sechs Verse aufweist. Die Anordnung der Strophen in zwei Quartette und zwei Terzette, die zu einem Sextett zusammengefasst wurden, weisen auf ein umgewandeltes Sonett hin. Auch die Reimanordnung und das Versmaß entsprechen nicht dem eines klassischen Sonetts. In der ersten Strophe ist ein Paarreim zu finden, wohingegen die zweite Strophe einen umarmenden Reim und die dritte einen Kreuzreim besitzt, der eine Kadenz umschließt. Dem reinen stumpfen Reim der ersten Strophe steht die Mischung aus klingenden und stumpfen Kadenzen der anderen beiden Strophen entgegen. Außerdem beinhaltet das Gedicht einen Binnenreim (V.5). Ebenso wie der überwiegend vorhandene Zeilenstil mit dem vierhebigem Jambus harmoniert, unterstützen die Zeilensprünge (V.7fff.) den bauenden Rhythmus des Gedichtes.
Der inhaltliche Aufbau in These, Antithese und Synthese ist mit dem eines klassischen Sonetts identisch.
In allen drei Strophen werden Bewegungsabläufe geschildert und dabei bis ins Detail beschrieben. Der Blick des Beobachters wandert dabei von der einen zur anderen Person, bis sich diese schließlich in einem Bild zusammenfinden.
In der ersten Strophe trägt eine Frau einen Becher mit solcher Behändigkeit und Anmut, das nichts daraus verschüttet wird.
Die zweite Strophe beschreibt Ähnliches, einen Mann, der ohne besondere Anstrengung, beinahe mit Leichtigkeit sein ungestümes Pferd zum Stehen bringt. Beide Strophen strahlen eine sichere und unproblematische Atmosphäre aus.
Dies ändert sich jedoch in der dritten Strophe, in der sich der Mann und die Frau treffen. Als er ihr den Becher aus der Hand nehmen möchte, zittern beide so sehr, dass dies misslingt und der ganze Inhalt vergossen wird. Dieses Missgeschick verleiht der dritten Strophe eine unsichere, unbehagliche und beinahe tragische Stimmung.
Zudem beinhalten alle Strophen in sich eine Steigerung, die bis zum Ende des Gedichtes den Aufbau einer Spannung bewirkt.
Das Motiv und die Aussage des Gedichtes werden durch die Verwendung von rhetorischen Figuren unterstützt.
Mit der Zweierfigur „Kinn und Mund" (V.2) verbindet man zwei Gesichtspartien, die bei genauerer Betrachtung parallel erscheinen. Durch die Gleichsetzung mit dem „Rand" des „Bechers" bildet sich ein noch viel intensiveres Bild der „Klarheit" und „Reinheit" heraus, das wegen der sinnlichen Wirkung des Mundes auch Gedanken der Schönheit und Eleganz hervorruft. Die Tautologie „leicht und sicher"(V.3) strahlt ein Gefühl der Unbeschwertheit und Sicherheit aus, das durch die Inversion „So leicht und sicher"(V.3) in den Vordergrund gerückt wird. Die Frau, um die es in der ersten Strophe geht, scheint ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein zu haben und völlig unbetrübt zu sein. Die Personifikation „Kein Tropfen aus dem Becher sprang" (V.4) hat eine unterstützende Wirkung auf die vorherrschende Stimmung der völligen Kontrolle und der Sicherheit, weil die aktive Bewegung des Tropfens durch das Adverb „kein" gebändigt, sogar unterdrückt wird. Da nicht ein einziger Tropfen verschüttet wird, hebt das Nomen „Tropfen" (V.4) das Bild der Vollkommenheit hervor. Mit einem „Tropfen" assoziiert man normalerweise etwas sehr kleines, feines und vor allem einzelnes, hier aber steht er als Pars pro Toto für den gesamten Inhalt des Bechers, was seine Bedeutung verstärkt.
Diese Stimmungen der Gefahrlosigkeit und der Leichtigkeit gehen von der „Hand" aus über „Kinn und Mund" bis sie schließlich im „Gang" durch den ganzen Körper strömen. Durch die dauernde Gegenwart dieser Seelenlagen wird ihre Wichtigkeit betont.
„So leicht und fest" (V.5) ist eine Inversion, Tautologie und Anapher zugleich. Mit den Adjektiven „leicht und fest" verknüpft man Mühelosigkeit und Stärke. Diesen Assoziationen wird durch die Inversion „So" (V.5) eine besondere Bedeutung verliehen.
Die Anapher stellt zwischen der Stimmung der ersten und der zweiten Strophe eine Verbindung her und betont auf diese Weise die große Ähnlichkeit dieser Stimmungen.
Die nächsten drei Verse zeugen von der Überlegenheit des Mannes über sein Pferd. Dabei heben die Adjektive „jung" (V.6) und „nachlässig" (V.7) die Dominanz des Reiters hervor, da bei einem „jungen Pferd" an ein wildes, ungestümes Tier voller Energie gedacht wird, während man eine „nachlässige Gebärde" eher mit Leichtigkeit als mit großer Kraftanstrengung verbindet. Diese Mühelosigkeit wird durch die Antithese „Und mit nachlässiger Gebärde", „Erzwang er, dass es zitternd stand" (V.7,8) nochmals unterstrichen, weil etwas erzwingen schon sehr kräftezerrend und nervenaufreibend sein kann. Die Alliteration „Erzwang er" (V.8) betont diesen Gegensatz erneut, genauso wie der dort vorhandene Zeilensprung. Auch die Hyperbel „zitternd" (V.8) und die Hypotaxe „Erzwang er, dass es zitternd stand" (V.8), welche durch die Konjunktion „dass" die Bestimmtheit und Entschlossenheit des Reiters ausdrückt, heben abermals seine Überlegenheit hervor.
Auch in dieser Strophe weitet sich das Gefühl der Sicherheit von der „Hand" und durch den Ritt und die „Gebärde" bis in den ganzen Körper aus und ist damit wieder die ganze Zeit gegenwärtig.
Die Inversion „Jedoch" (V.9) hebt die einräumende oder gegensätzliche Wirkung des Wortes hervor und kündigt somit einem Wandel der Stimmung an. Das Adjektiv „leichten" (V.10) betont nochmals die scheinbare Mühelosigkeit. Auch die Antithese „Den leichten Becher nehmen sollte, So war es beiden allzu schwer" (V.10f.) und die Hyperbel „allzu" (V.11) verstärken den entstandenen Kontrast zwischen der selbstbewussten und problemlosen Stimmung der ersten beiden Strophen und dem nun plötzlich auftretenden Gefühl der Machtlosigkeit und Verzweiflung. Diese neue Empfindung wird durch die b-Alliteration „beide bebten" und die s-Alliteration „sie so sehr" (V.12), welche die Erregtheit, Aufregung und auch Kraftanstrengung der „beiden" ausdrückt, unterstützt.
Der Schlagreim und die gleichzeitige Vermenschlichung „Hand (…) fand" (V.13) sowie die Epiphora „Hand" (V.1,5,9) stellen die besondere Bedeutung der Hand heraus. In den ersten beiden Strophen steht die Hand für Stärke und Zuversicht, in der Dritten drückt sie jedoch eher Verletzlichkeit aus.
Ebenso verbindet die Epiphora „Hand" alle drei Strophen miteinander, da sie jeweils im ersten Vers der nächsten Strophe steht. Auf diese Weise hebt sie so die Zusammengehörigkeit der Strophen hervor.
Die dritte Strophe ist insgesamt sehr hypotaktisch, was zu einem Spannungsaufbau führt, der sich bis zum letzten Vers fortsetzt.
Der durch das Verb „rollte" (V.14) personifizierte „Wein" stellt den Umbruch von der erzwungenen Passivität (vgl. v.4) zur Aktivität dar. Diese Wendung beinhaltet sozusagen eine Niederlage der „beiden", welche durch das Adjektiv „dunkler" (V.14), indem es eine düstere, bedrückte fast traurige Stimmung hervorruft, verstärkt wird.
Das Selbstbewusstsein und die überlegene Haltung beider wandelt sich in Verunsicherung und Unterlegenheit.
Auch der in der ersten und der dritten Strophe erwähnte „Becher"(V.1,4,10) und sein Inhalt „Tropfen"(V.4) und „Wein"(V.14) hat eine besondere Bedeutung. Er steht für die Gefühle des „Er" und der „Sie", welche in dem Becher im gesamten Gedicht präsent sind. Am Anfang scheinen sie vollkommen gesichert zu sein (vgl.V.4), doch am Ende, als sich beide annähern und die Gefühle des anderen annehmen wollen (vgl.V.9f.), sind sie dazu nicht fähig und verlieren sie (vgl.V.14).
Das Gedicht „Die Beiden" handelt von der Schwierigkeit einem anderen Menschen die eigenen Empfindungen zu offenbaren oder verständlich zu machen und die Gefühle des anderen annehmen zu können. In der Erregtheit der beiden Personen „Er" und „Sie" (vgl. V.12) spiegelt sich nicht nur der Starke Willen und der Wunsch wider, zueinander zu finden und die eigenen Gefühle mit dem anderen zu teilen, sondern auch die Angst davor zurückgewiesen oder verletzt zu werden. Genau dieser Zweikampf zwischen den Emotionen und dem Verstand führt zu einer Unsicherheit der beiden, die ihren Annäherungsversuch scheitern lässt.
Darauf, dass es in dem Gedicht um eine zwischenmenschliche Beziehung geht, weist schon die Überschrift „Die Beiden" hin. Ebenso verstärkt der Aufbau: These, Antithese, Synthese durch den vorbereitenden Charakter der ersten beiden Strophen und den auflösenden Charakter der dritten Strophe die Aussage des Gedichtes.
„Die Beiden" ist eindeutig dem Symbolismus zu zuordnen und kein impressionistisches Gedicht. Hierfür spricht das Fehlen des lyrischen Ich oder Wir sowie die symbolträchtige Sprache, wie „Hand"(V.1,5,9,13) oder „Becher"(V.1,4,10). Auch die beinahe perfekte ausgestaltete Struktur, die vor allem in der Ähnlichkeit zum klassischen Sonett, im Reim oder den vielen verschiedenen rhetorischen Figuren erkennbar wird, ist typisch für den Symbolismus und trägt zu der Einordnung des Gedichtes in dieser Epoche bei. Jedoch enthält „Die Beiden" wegen der durchgängigen Bewegung der beschriebenen Personen und Gegenstände auch ein Element des Jugendstils.
Objektiv betrachtet ist die äußere Form und die inhaltliche Struktur, so wie sie für den Symbolismus gebräuchlich ist, vortrefflich gelungen. So erscheint das Gedicht besonders durch die unterschiedlichen Reimanordnungen in jeder Strophe sehr kompliziert und entspricht deshalb der Vorstellung der Symbolisten, dass ihre Werke nur für eine Elite verständlich sein sollen, da sie sich von der Gesellschaft abgewendet haben.
Subjektiv beurteilt handelt es sich bei „Die Beiden" um ein sehr emotionales Gedicht, was seine Gefühlsbetontheit und Leidenschaftlichkeit vor allem durch die Darstellung von Bewegungen und durch Reim, Rhythmus und rhetorische Figuren „Denn beide bebten sie so sehr"(V.12) erhält. Gleichzeitig regt der unerwartete Schluss auch zum Nachdenken an.
Da das Präteritum verwendet wird, erscheinen die beschriebenen Personen so weit entfernt zu sein, dass sie schon fast irreal wirken. Dies schwächt die doch eigentlich ziemlich reelle Aussage des Gedichts.