Autor:
James Joyce wurde 1882 in Dublin geboren und in den besten Jesuitenschulen Irlands erzogen. Er lehnte sich bald gegen den Kirchenzwang auf und studierte von 1898 bis 1902 Philosophie und Sprachen am University College in Dublin. Noch als Student veröffentlichte er kritische Schriften, die Ibsens Bedeutung aufzeigten und sich gegen die nationale Einengung des irischen Theaters richteten. 1902 ging er nach Paris in der ursprünglichen, aber bald aufgegebenen Absicht, Medizin zu studieren. Für kurze Zeit war er Lehrer an einer Privatschule in Dalkey bei Dublin, verließ aber im Herbst 1904 endgültig seine Heimat und lebte seitdem in freiwilliger Verbannung in Pola, Triest, Rom, Zürich und Paris und auf Reisen. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich bis zum Ende des Ersten Weltkriegs vor allem als Sprachlehrer an Berlitz-Schulen und durch Privatstunden. Durch Vermittlung von Freunden wie Ezra Pound, der auch die Veröffentlichung von “A Portrait of the Artist as a Young Man” gefördert hatte, erhielt er Zuwendungen und vor allem die großzügige Unterstützung von Harriet Shaw Weaver, die es ihm erlaubten, sich ganz der Schriftstellerei zu widmen. Bekannt wurde er durch die Veröffentlichung von “Ulysses” in Paris 1922. Joyce, in den dreißiger Jahren zeitweilig fast erblindet, starb entkräftet 1941 in Zürich.
 
Wichtigste Werke:
  • Chamber Music (Kammermusik, Gedichte, 1907)
  • Dubliners (Dubliner, Novellen, 1914)
  • A Portrait of the Artist as a Young Man
  • (Ein Porträt des Künstlers als junger Mann, autobiographischer Roman, 1916)
  • Ulysses (1922, dt. 1927)
  • Exiles (Verbannte, Schauspiel, 1918)
  • Finnegan’s Wake (1939)
Inhaltsangabe
Der Roman ist in achtzehn Episoden gegliedert. Hauptperson der ersten drei ist Stephen Dedalus, der aus dem Pariser Exil, wo er sein Medizinstudium abgebrochen hat, nach Irland zurückgekehrte Künstler. In der ersten Episode, Telemachus genannt (weil Stephen wie Telemachos, Odysseus’ Sohn, auf der Suche nach einem Vater ist), frühstückt Stephen zusammen mit seinem Medizinerfreund Buck Mulligan und dem Oxfordstudenten Haines in seiner Wohnung im Martello Tower, einem alten Befestigungsturm an der Dubliner Bucht. Eine Stunde später ist Stephen (in der zweiten, der Nestor-Episode) als Lehrer an der Schule Mr. Deasys tätig, der ihm – ein Nestor der Moderne – Ratschläge und Prophezeiungen mit auf den Weg gibt, antisemitische Expektorationen und außerdem einen Brief betreffend die Behandlung der Maul- und Klauenseuche, den Stephen später in der Zeitung, für die Bloom arbeitet, unterzubringen versucht. Nach der Schule geht Stephen am Strand spazieren, führt in Gedanken Selbstgespräche, erinnert sich an die Monate in Paris, an die Rückkehr nach Dublin kurz vor dem Tod seiner Mutter, der er in kaltem Stolz die Erfüllung ihrer letzten Bitte, er möge an ihrem Sterbelager beten, verweigert hat.
Der humane, aber durchschnittliche Leopold Bloom, der moderne Jedermann, Ire ungarisch-jüdischer Abstammung, tritt erstmals in der vierten Episode (Calypso) auf. Er bereitet das Frühstück für seine Frau Molly, liest einen Brief seiner Tochter Milly, kauft sich Nieren zum Frühstück, ißt, geht aufs WC, wo er in einer alten Illustrierten eine Kurzgeschichte liest. Wie Odysseus die Calypso, so verläßt Bloom seine Frau und beginnt seine tägliche Odyssee durch Dublin, während seine Gedanken immer wieder zu Molly zurückschweifen, die er bei der Heimkehr als eine Penelope, also als eine treue Gattin, wiederzusehen hofft. Sein Weg führt ihn zunächst zum Postamt, wo er unter dem Namen “Henry Flower” einen postlagernden Brief abholt: Er korrespondiert heimlich mit einer Stenotypistin namens Martha Clifford – ein bescheidenes Pendant zu den vielen Ehebrüchen seiner Frau. Dann wohnt er kurz einem Gottesdienst bei, kauft ein Stück Seife und geht in ein öffentliches Bad. Er betrachtet sich im Wasser, gedankenlos und egoistisch wie die Gefährten des Odysseus, die von den Lotos-Pflanzen aßen, die das Symbol dieser Episode sind. Seine Hades-Fahrt führt Bloom zum Friedhof, wo um elf Uhr sein Freund Paddy Dignam begraben wird. Unter den Trauergästen ist auch Stephens Vater Simon Dedalus. Kurz nach Mittag spricht Bloom in einer Zeitungsredaktion vor und verhandelt über ein Schlüsselemblem, das in einer Anzeige verwandt werden soll. Hier kommt es beinahe zur Begegnung mit Stephen, der gerade versucht, Mr. Deasys Artikel unterzubringen und dann mit den Journalisten in eine Kneipe geht.
 
Ums Essen geht es in der nächsten Episode: Es ist Lunch-Zeit, und die Dubliner sind so gierig (wie die Lästrygonen, das menschenfressende Riesenvolk aus der Odyssee), daß Bloom Mühe hat, ein Restaurant zu finden, wo er seine bescheidene Mahlzeit einnehmen kann. Noch einmal führen Blooms und Stephens Wege nur knapp aneinander vorbei: Als Bloom in der Bibliothek nach einer alten Zeitung sucht, diskutiert Stephen in einem Nebenraum seine Shakespeare-Theorien, doziert er ein paar Zuhörern und Mitdiskutanten “Theologicophilologik”, bringt er gelehrte Thesen vor, die er dann allerdings selbst nicht ganz ernst nimmt. Bloom hört einen Moment zu, entkommt dann aber (wie Odysseus der Scylla und der Charybdis), während Stephen weiterredet: Der Geist des Königs im Hamlet sei Shakespeare selbst, und Prinz Hamlet sei die Verkörperung von Shakespeares Sohn Hamnet, der mit elf Jahren starb. Wie durch die Irrfelsen, die einmal in der Odyssee erwähnt werden, bewegen sich in den achtzehn kurzen Abschnitten der zehnten Episode eine Reihe von Dublinern, in immer neuen Konstellationen von Nähe und Ferne zueinander, im Labyrinth ihrer Stadt; der gemeinsame Bezugspunkt ihrer höchst unterschiedlichen Wege, Gedanken und Wahrnehmungen ist die Fahrt des Vizekönigs durch Dublin: Alle sehen ihn, manche nur kurz, manche länger. (Ein beigeordnetes Leitmotiv in diesem Kapitel ist ein den Liffey hinabtreibender zerknüllter Zettel, den Bloom am Morgen in den Fluß geworfen hat und der ebenfalls von verschiedenen Personen auf verschiedene Weise wahrgenommen wird.)
 
Die Sirenen hinter einem “Thekenriff” sind das quasi homerische Personal des Restaurants Ormond, wo neben Bloom auch Simon Dedalus und Blazes Boylan einkehren. Bloom schreibt dort an seine unbekannte Briefpartnerin und will dann Martin Cunningham treffen, um gemeinsam mit ihm den verarmten Hinterlassenen Paddy Dignams zu helfen. Inzwischen ist es fünf Uhr nachmittags geworden; Bloom geht in Barney Kiernans Pub, läßt sich dort in ein Gespräch mit einem Dubliner, dem “Bürger” ein, einem irischen Nationalisten der Sinn-Fein-Bewegung und Antisemiten, der ihn beleidigt und schließlich – Parodie des Polyphem, der dem fliehenden Odysseus einen Felsen nachschleudert – mit einer Teebüchse nach Bloom wirft, der in einem Wagen den Gewalttätigkeiten des (im übertragenen Sinn) “Einäugigen” entkommt. Am Strand findet Bloom etwas Ruhe; aus der Ferne beobachtet er drei Mädchen, unter ihnen die sentimentale, aber durchtriebene Gerty McDowell, aus deren Perspektive zunächst erzählt wird. “Als sie Blooms Blicke bemerkt, nehmen ihre Wunschphantasien eine eindeutige Richtung; sie hebt ihre Röcke, um Bloom zu erregen, der nun zum Voyeur wird und onaniert – wiederum eine Szene der mißlungenen Kommunikation, Zeichen der Ausgeschlossenheit Blooms, der seiner Veranlagung nach ein vorsichtiger Einzelgänger, als Jude ein Exilierter und in seinen Liebesbeziehungen frustriert ist”: Seit elf Jahren hat er nicht mehr mit seiner Frau geschlafen, und wie dem Odysseus der Besitz Nausikaas, so bleibt Bloom der Besitz Gertys verwehrt.
Sein Mitleid führt ihn dann ins Frauenspital, wo eine Bekannte, Mrs. Purefoy, in den Wehen liegt. Während er sich im unteren Stockwerk mit Stephen, Mulligan und dem Arzt Dixon, der ihm einst einen Bienenstachel entfernt hat, unterhält, schenkt oben Mrs. Purefoy einem Sohn das Leben. Die jungen Mediziner im Spital machen nur Witze über Mrs. Purefoys Entbindung, vergehen sich gegen ihre Fruchtbarkeit wie Odysseus’ Gefährten gegen die Rinder des Helios und eilen zur Vorortbahn, um dort zum Bordell der Bella Cohen, der Dubliner Circe zu fahren. Ein Traumspiel hebt an; die untersten Seelenschichten der Beteiligten werden zuoberst gekehrt: Bloom wird halluzinatorisch zur Frau, gebiert, wird von “Bello” (die Bordellmutter als Mann) gequält, seine sado-masochistischen Neigungen kommen zum Vorschein. “Circe” verwandelt ihn und seine Gefährten in Schweine: Blooms Visionen sind erotisch-pervers, Stephens grotesk und tragisch, doch am Ende erblickt Bloom, ähnlich wie Stephen, der seine tote Mutter beschwört, einen Menschen, den er geliebt und verloren hat: seinen Sohn Rudy. Die Satansmesse des freigesetzten Unbewußten endet, als Stephen, von Bloom begleitet, aus dem Bordell flieht. Erst als er sich vom Straßenpflaster erhebt (ein Soldat hat ihn niedergeschlagen, und Bloom hat wie ein Vater bei ihm gewacht), bewegt sich die Erzählung wieder ruhiger, dann aber auch müder und zerfahrener voran. Die beiden kehren in einer Kutscherkneipe ein, unterhalten sich, reden allerdings auch aneinander vorbei: Stephen ist nervös und reizbar, Blooms bescheidener, wenn auch vorurteilsloser Geist ist ihm nicht gewachsen. Dennoch entwickelt sich in dieser (nach Eumäus, dem treuen Sauhirten des Odysseus benannten) Episode zwischen beiden eine unausgesprochene Sympathie. Dann ziehen sie Arm in Arm zu Blooms Wohnung in der Eccles Street Nr. 7; Bloom muß durch ein Hinterfenster einsteigen (heimlich und unerkannt betritt er sein Heim wie der zurückgekehrte Odysseus seinen Palast), und als Getränk kann er Stephen nur einen Kakao anbieten: “Parodie des Weines, mit dem die Kommunion-Kommunikation der beiden durch eine mystische Vater-Sohn-Beziehung Verbundenen eigentlich vollzogen werden müßte.”
Odysseus ist heimgekehrt und legt sich neben Penelope (Molly) schlafen. Damit beginnt der letzte Abschnitt des Romans, der vierzigseitige innere Monolog der Molly Bloom, der interpunktionslos wiedergegebene Strom ihres Bewußtseins, der seinen Ausgang bei dem zurückgekehrten Bloom nimmt (den Molly verachtet und betrügt und an dem sie dennoch hängt) und der schließlich wieder zu Bloom zurückkehrt. “Ich bin das Fleisch, das stets bejaht” – so kennzeichnet Joyce die dem Irdischen verhaftete, unintellektuelle, sinnliche Molly, die Verkörperung von Fruchtbarkeit, Wärme und Leben, und mit einem “Ja” beginnt und endet, als sie frühmorgens einschläft, ihre Gedankenflut.
Vorliegendes Werk
Stoff

(Quellen zu diesem Abschnitt vor allem: Richard Ellmanns Joyce-Biographie und C. Giedion-Welckers “Einführung zu James Joyces: Ulysses”)
Schon der zwölfjährige James Joyce hatte Odysseus zu seinem Lieblingshelden erkoren. Er erschien ihm als der menschlichste unter den prominenten Gestalten der Antike und später, als sein Blick sich erweitert hatte, als die humanste Gestalt in der gesamten Weltliteratur. Der einzige Mann auf Hellas, der gegen den Krieg auftrat, der die List, die geistige Konstruktion, der Schlacht vorzog, der mit Phantasie, Klugheit und humorvoller Schlauheit viele Irrfahrten bestand. “Ulysses”, ein grundsätzlich unkriegerischer Mann, jedoch ein tapferer Wanderer durch die Elementarkräfte der Natur, durch die glückhaften und fatalen Begegnungen mit der Menschheit. Und nun setzt auf der Höhe des eigenen Lebens das dichterische Werk ein: seine moderne Odyssee. Biographisch liegen zwischen Stephen Dedalus am Ende von “Ein Porträt des Künstlers als junger Mann” und der Morgenstunde im Martello-Turm zu Beginn des “Ulysses” zwei Jahre verzweifelten und bitteren Lebenskampfes, auch im Sinne des Durchringens zu eigener Berufung. “Wie bei Klee war die Wahl nicht einfach: tiefe Verbundenheit mit der Musik und große Könnerschaft (hier eine vollendete Tenorstimme, bei Klee ein meisterhaftes Violinspiel) sind zunächst beinahe ebenso stark wie der Drang nach persönlicher künstlerischer Entfaltung. Wie Klee wählt Joyce das Ausdrucksmittel, durch das er sich am selbständigsten zu äußern hofft.
 
Aber die Musik bleibt hier und dort lebenslängliche Begleiterin und auch methodische Anregerin in der eigenen künstlerischen Gestaltungssphäre.” (Giedion-Welcker) Die Pariser Studienzeit wird abrupt abgebrochen durch den Ruf nach Dublin an das Sterbebett der Mutter. Hier erfolgt eine letzte persönliche Auseinandersetzung mit dem Katholizismus, dessen Dogma zu befolgen er der Sterbenden verweigert. Ein entscheidender Lebensaugenblick, eine Wunde, die sich nicht schließen will und immer wieder als Gewissensfrage und -plage im “Ulysses” auftaucht. 1904, das Jahr, das er seinem Roman gegeben hat, bedeutet persönlich eine entscheidende Lebenswende. Es ist der Beginn der eigenen Odyssee, das Jahr des Aufbruchs aus der Heimat mit Nora Barnacle (die seine Frau wird), um als Sprachlehrer und kaufmännischer Angestellter in Triest, Rom und später in Zürich eine reale Existenz aufzubauen und im Verborgenen, in den Neben- und Nachtstunden, an dem ihm Wichtigsten zu arbeiten: dem täglichen “Abenteuer” des modernen Menschen dichterische Form zu geben. Diese doppelte Existenz und Arbeitsweise, die er in Rücksicht auf seine Familie zu führen sich auferlegte, bei immer schlechter werdender Sehkraft, bedeutet wieder ein für ihn typisch illusionsloses und reales Erfassen der Situation. In diesem Sinne hat er oft den leeren Wahn junger Poeten kritisiert, die glaubten, die Welt müsse sie lediglich ihrer dichterischen Sendung wegen tragen und ertragen. “Die geistige Konsequenz, mit der Joyce Dichtung und Leben zu restloser Einheit verwob, steht wohl einzigartig da.” (Giedion-Welcker) So erwuchs ihm auch sein poetischer Stoff aus den tausendfältigen Mosaiken alltäglicher Lebenserfahrung, denn vor allem ging es ihm in diesem neuen Werk um die objektive, komplexe und kompromißlose Erfassung des Lebens – auch des sogenannten Häßlichen – und um die künstlerische Transfiguration dieser Realität, unser aller Existenz in Alltag und Gegenwart. Gleichzeitig “setzte [bei ihm] eine geistige Bestrahlung sub specie aeternitatis ein, eine Unterblendung mit dem Urbild des menschlichen Abenteuers, und eine ständige Beziehungssetzung zum makrokosmischen Geschehen, als dessen irdisches Gleichnis ihm das Leben erschien.” (Giedion-Welcker)

Neben der Benutzung der “Odyssee” als Beziehungshintergrund verwendet Joyce ein Exemplar der Dubliner Tageszeitung “Evening Telegraph” von Donnerstag, dem 16. Juni 1904, das an jenem Tag unter anderem über das Pferderennen um den Goldpokal von Ascot, ein schreckliches Unglück in Amerika (der Ausflugsdampfer General Slocum brannte aus) und ein Autorennen um den Gordon-Bennet-Preis in Homburg berichtete. Das Dublin, in dem “Ulysses” spielt, lebt teils von Erinnerungen des Autors an seine Heimat, zum größten Teil aber von “Thom’s Dublin Post Office Directory”, einem Adreßbuch.

 
Thema
Das Buch stellt Begebenheiten eines einzigen Tages (16. Juni 1904) in Dublin dar, die von drei Personen – Stephen Dedalus, Leopold Bloom und seiner Frau Molly – erlebt werden.
Motive
“Ulysses” besitzt einen gewaltigen Motivreichtum, von durchgehenden Leitmotiven, wie Geburt, Tod, Liebe, Sexualität, Ehe, Freundschaft, Vater- und Mutterschaft usw., bis etwa hin zu den immer wieder auftauchenden Gewissensbissen von Stephen Dedalus, die von seiner Weigerung, am Sterbebett seiner Mutter zu beten ausgehen (vgl. dazu “Stoff”). Ich greife also nur einige Motive heraus.

Die Odyssee als Leitmotiv und das Stuart-Gilbert-Schema

Jedem Kapitel ist eine Episode aus der homerischen “Odyssee” zugeordnet. Diese wird in eine Handlungsepisode des Romans übersetzt, wobei der Zusammenhang nur über eine komplexe und meist sehr ironische Analogie zu erschließen ist.
Jede Episode erhält außerdem einen symbolisch-allegorischen Schauplatz und als Handlungszeit eine genau angegebene Stunde besagten Tages. Des weiteren wird jeder Episode eine bestimmte Kunst (bzw. Wissenschaft), ein zentrales Symbol und eine bestimmte “Technik” zugewiesen. Fünfzehn Episoden erhalten als weitere symbolische Ausstattung ein Organ des menschlichen Körpers und acht werden von einer bestimmten Farbe dominiert. Wollte man nun versuchen, die Ausfüllung dieses Schemas nun im einzelnen darzustellen, so würde sich daraus ein Buch von etlichen hundert Seiten ergeben (was etwa Stuart Gilbert in “James Joyces Ulysses” gezeigt hat).
Ich möchte als Beispiel die vierzehnte Episode wählen, in der Leopold Bloom die Frau seines Freundes Purefoy in einem Hospital besucht, wo sie ein Kind erwartet. Bloom trifft sich dort mit anderen Freunden; und als das Kind geboren ist, wird das freudige Ereignis auf irische Weise mit einem Trinkgelage gefeiert. Die Homerische Bezugsepisode ist die, in der sich die Mannschaft des Odysseus an den Ochsen des Sonnengotts vergriff. Rinder sind von alters her, und in Irland in besonderem Maße, Symbole der Fruchtbarkeit. (In “Ein Porträt des Künstlers als junger Mann” läßt Joyce die Erzählung gleichsam aus der mythischen Fruchtbarkeit Irlands herauswachsen, indem er sie mit einem Kindervers aus der irischen Folklore beginnt, der von einer Muh-Kuh erzählt.) Das Kapitel “Rinder des Sonnengottes” handelt nirgends von Kühen, und trotzdem wird der Text unterschwellig von einem Rindermotiv durchzogen, das immer wieder unvermittelt an die Oberfläche tritt, so z.B. in einem französischen Ausruf “Mort aux vaches” (= Tod den Kühen) oder in einem (auch im Original deutschen) Nietzsche-Zitat “Deine Kuh Trübsal melkest Du.” Als Schauplatz ist dem Kapitel das Hospital zugeordnet, als Uhrzeit zehn Uhr abends, als Organ die Gebärmutter, als Kunst die Medizin, als zentrales Symbol das Bild der Mütter und als “Technik” die embryonale Entwicklung. Letztere wird von Joyce in Erzähltechnik übersetzt, indem er die gleichsam embryonale Entwicklung der englischen Sprache dadurch nachbildet, daß er die charakteristischen Stile von der Antike bis zur Gegenwart parodistisch imitiert (vgl. dazu “Erzählform und Erzählperspektive”).
Allerdings stößt das Stuart-Gilbert-Schema und die Überzeugung von einem großen Zusammenhang des “Ulysses” mit der “Odyssee” auch mancherorts auf Kritik, was folgendes Zitat aus einem Vortrag von Vladimir Nabokov beweisen dürfte: “Vor allem muß ich davor warnen, in Leopold Blooms ereignislosem Umherziehen und unbedeutenden Abenteuern an einem Sommertag in Dublin eine eng an die ‘Odyssee’ angelehnte Parodie zu sehen, bei der dem Anzeigenwerber Bloom die Rolle des listenreichen Odysseus zufällt und seiner ehebrecherischen Frau die der keuschen Penelope, was für Stephen Dedalus die Rolle von Odysseus’ Sohn Telemach übrigließe. Zwar ist klar, daß es bei Bloom um einen sehr undeutlichen und sehr allgemeinen homerischen Widerhall des Irrfahrten-Motivs geht, was allein schon der Romantitel andeutet, und wir finden unter den zahlreichen anderen Anspielungen im Buch auch einige, die sich auf die Antike beziehen, doch wäre die Herausarbeitung enger Parallelen bei jeder Gestalt und jeder Szene des Buchs reine Zeitverschwendung. Es gibt nichts Öderes als eine in die Länge gezogene, sklavisch durchgehaltene Allegorie, die sich auf einen bis zum Überdruß bekannten Mythos stützt. […] Noch etwas: ein öder Schwätzer namens Stuart Gilbert ließ sich durch eine von Joyce augenzwinkernd zusammengestellte Liste täuschen und kam so zu dem Ergebnis, daß in jedem Kapitel ein bestimmtes Organ eine besondere Rolle spielte – Ohr, Auge, Magen usw. -, doch auch auf diesen langweiligen Unsinn werden wir nicht weiter eingehen. Alle Kunst ist in gewisser Hinsicht symbolisch; doch rufen wir ‘haltet den Dieb’, wenn ein Kritiker mit voller Absicht aus dem feinsinnigen Symbol eines Künstlers die abgestandene Allegorie eines Pedanten macht.”
 
Güte besiegt Gewalt
Unscheinbare Güte überwindet in “Ulysses” die gewissenlose Gewalt. Stephens Vorwurf gegen Mulligan ist dessen Brutalität und Grausamkeit, Mollys Klage gegen Boylan richtet sich wiederum gegen die Brutalität, gegen die animalische Sinnlichkeit ohne Gefühl. Bloom ist es vorbehalten, dieses Thema des Buches zu formulieren, wenn auch unter komischen Umständen, als er die Liebe vor dem Cyklopen verteidigt und sie bescheiden, aber treffend als “das Gegenteil von Haß” definiert. So beschließt Molly den Tag, treu wider Willen, indem sie sich nochmals ihrem Gatten hingibt und Boylan als belanglos beiseite schiebt. In Joyces Werk trägt die Seele den Sieg davon.
 
Vater-Sohn-Problem
“Ein Vater, sagte Stephen, […] ist ein notwendiges Übel.”
Damit meint Stephen jedoch den leiblichen Vater und ist selbst ständig auf der Suche nach einem geistigen, den er schließlich in Bloom findet. In dieser Vater-Sohn-Verbindung geht es um eine symbolische Durchdringung von konkreter Realität und abstrakter geistiger Sublimierung – Bloom ist ein schützender Helfer und Versteher im praktischen Leben, aber am Schluß des Buches entschwindet der einsame Künstler und Denker Stephen aus seiner Atmosphäre.
“Put allspace in a notshall” (nutshell)
(etwa: “Steck’ den Allraum in eine Nußschale”)
“Stephen Dedalus
Elementarklasse
Clongowes Wood College
Sallins
County Kildare
Irland
Europa
Welt
Universum”
In “Ein Porträt des Künstlers als junger Mann” macht der Primarschlüler Stephen Dedalus diese Notiz auf das Vorsatzblatt seines geographischen Lehrbuches. Von einem Kernpunkt her, von der punktuellen Situation eines Individuums – mit genauester Positionsangabe -, erwächst innerhalb einer steten, konzentrischen Umkreisung gleichzeitig die Erweiterung, der Anschluß an das Universum. Umgekehrt gelesen: aus dem Universum, aus dem Makrokosmos, entschält sich sukzessiv ein winziger Mikrokosmos: Stephen Dedalus, James Joyce.
“In diesem scheinbar belanglosen Eintrag, der in der rückblickenden Betrachtung eigener, zwanzigjähriger Entwicklung wie ein kleiner Kristall aus der Frühzeit zutage gefördert wird, liegt schon jene Konzentration und gleichzeitig jener Erweiterungsdrang, der einen eingenommenen Standpunkt exzentrisch ausstrahlen läßt und in immer erweiterte Beziehung setzt. Eine Methode, die im ‘Ulysses’ und im Spätwerk, ‘Finnegans Wake’, zur dominierenden wird. ‘Put allspace in a notshall.’ […] Im ‘Ulysses’ wird dieses Prinzip immer wieder, am hellen Tag und in torkelnder nächtlicher Trunkenheit, rational und in irrationaler Phantastik ausgespielt, während im Spätwerk Kleinstes und Größtes, Kosmisches und Menschliches in engster Verwobenheit aus traumhaft-dämmerndem Halbschlaf herauftönt.” (Giedion-Welcker)
 
Bewegung und Wanderung
“Bewegung und Wanderung war von jeher leitmotivisch für Epos und Roman. Odysseus, Sindbad, Dante, Parzival, Pantagruel, Simplizissimus, Don Quixote, Wilhelm Meister, der Grüne Heinrich, sie alle wandern, das heißt, sie durchmessen Raum und Zeit, sie schreiten durch die Welt und durch sich selbst. Mr. Bloom, die Hauptfigur dieses modernen Epos, schreitet während eines einzigen Tages und taumelt während einer Nacht durch Dublin, durch einen begrenzten Raum, aber dennoch durch ein enorm komplexes modernes Labyrinth. Die extensive Zeit des traditionellen Romans schrumpft hier in eine intensive von neunzehn Stunden zusammen. Aber dadurch, daß die weitschweifenden, assoziierenden Gedanken der Menschen eigentlich die Hauptakteure in diesem Buche sind, wird diese relativ kurze Zeit, dieser bedingte Zeitraum, tausendfältig erweitert und gefüllt. Erweitert durch die grenzenlose Spannkraft des Geistes, der hier Laut-Denkenden, der in alle Zeiten eindringt, von Gegenwart in Vergangenheit zurücksinkt und in die Zukunft hinausgreift.” (Giedion-Welcker)
Schauplatz
Dublin

Die beschriebenen Tag- und Nachtwanderungen von Stephen und Bloom spielen sich fast ausschließlich im Raum einer Großstadt ab, in Dublin – nur kurz unterbrochen von landschaftlichen Abstechern. Joyce wählte die Stadt als Gehäuse und darüber hinaus als Schicksal moderner Kultur, als Rahmen heutiger menschlicher Aktivität. Jeder Kultur liegt die städtische Siedlung zugrunde als Beginn gemeinschaftlicher Ordnungsplanung gegenüber dem Chaos.
Die Städte, vor allem aber Dublin, waren für Joyce etwas Besonderes, von innen her Gesehenes. Sie erschienen ihm wie vielschichtige, pluralistische, aber durchaus individuelle Persönlichkeiten. Namen, Straßen, Firmenschilder, Häuser waren ihn in diesem Sinne aufschlußreich und lebendig. Man hat einmal scherzend bemerkt, daß, wenn Dublin zerstört würde, ein Wiederaufbau nach der exakten Topographie und den detaillierten Angaben des “Ulysses” unternommen werden könnte.
Eccles Street 7
Es ist ein schmales Haus mit je zwei zur Straße gehenden Fenstern in den drei Stockwerken. Es steht mittlerweile nicht mehr, und 1904, zu der Zeit also, die Joyce etwa 15 Jahre später für seine Blooms wählt, stand das Haus leer. Die Blooms bewohnen zwei Räume im Erdgeschoß ihres gemieteten dreistöckigen Hauses. Die Küche liegt im Erdgeschoß, das Wohnzimmer zur Straße, und das Schlafzimmer nach hinten. Es gibt weder warmes Wasser noch ein Badezimmer, wohl aber eine Toilette auf dem Treppenabsatz und im Garten hinter dem Haus. Die beiden Stockwerke über den Räumen der Familie Bloom stehen leer und sind zu vermieten – die Blooms haben sogar im Erdgeschoß am Fensterrahmen zur Straßenseite hin eine Karte mit der Aufschrift “Unmöblierte Zimmer” angebracht.
Milieu
Eine Angabe des Milieus, in dem der Roman spielt, wird spätestens ab dem Irrfelsen-Kapitel schwierig. Verschiedenste Personen treten auf, vom Vizekönig über einen Priester bis hin zur verarmten Familie Dedalus ist fast jede Gesellschaftsschicht mehr oder weniger stark vertreten.
 
Figuren
Leopold Bloom
“£ 5 Belohnung! Verloren gegangen, gestohlen worden oder entlaufen ist aus seiner Wohnung No. 7 Eccles Street ein Herr um die 40, hört auf den Namen Bloom, Leopold (Poldy), Größe 5 Fuß 9½ Zoll, volle Gestalt, olivengrüner Teint, hat sich inzwischen möglicherweise einen Bart wachsen lassen, trug, als er zuletzt gesehen wurde, einen schwarzen Anzug.”

“Und saget der wandeler Leopold daz […] er war ein man von huote und ein kluoc man.”

Bloom ist der Sohn eines ungarischen Juden namens Rudolph Virag (was im Ungarischen “Blume” bedeutet), der seinen Namen in Bloom änderte, und von Ellen Higgins, aus einer irisch-ungarischen Familie. Er wurde 1866 in Dublin geboren, ist also jetzt 38 Jahre alt. Zuerst hat er eine von einer gewissen Mrs. Ellis geleitete Schule besucht, dann ein Gymnasium, wo Mr. Vance einer seiner Lehrer war; er ging 1880 von der Schule ab. Weil ihm seine Neuralgie unerträglich ist und er sich nach dem Tode seiner Frau verlassen fühlt, nimmt Rudolph Bloom, Leopolds Vater, sich 1886 das Leben. Leopold lernt Brian Tweedys Tochter Molly bei einem Gesellschaftsspiel (Reise nach Jerusalem) in Mat Dillons Haus kennen, bei dem sie miteinander ausgelost werden. Sie heiraten am 8. Oktober 1888, er ist 22, sie 18 Jahre alt. Ihre Tochter Milly wird am 15. Juni 1889 und ihr Sohn Rudy 1894 geboren; er stirbt elf Tage nach der Geburt. Zuerst arbeitet Bloom als Schreibwarenvertreter für die Firma Wisdom Hely’s, später ist er eine Weile Aufseher für eine Viehhändlerfirma. Die Blooms wohnen von 1888 bis 1893 in der Lombard Street und von 1893 bis 1895 in Raymond Terrace, sie ziehen, nachdem sie eine Weile im City Arms Hotel gewohnt haben, 1895 in die Ontario Terrace und von dort 1897 in die Holles Street. Im Jahre 1904 wohnen sie in der Eccles Street 7. Leopold ist jetzt als Annoncenacquisiteur an einer Dubliner Zeitung selbständig, verdient dabei aber nicht besonders viel.

Da es über Bloom mehr zu sagen gäbe, als ich in diesem Rahmen ausführen kann (wie auch das folgende Zitat beweisen dürfte), greife ich nur einige Aspekte heraus.
“Mr. Bloom […] wird während neunzehn Stunden […] in denen er agierend, laut denkend oder mit seinen Mitmenschen verhandelnd an uns vorbeizieht, psychisch und physisch in einer Weise beleuchtet und durchröntgt, daß nicht nur seine unbedeutendsten Taten, sondern vor allem sein innerstes Wesen bis in letzte Einzelheiten vor uns ausgebreitet werden.” (Giedion-Welcker)

“Seit der Veröffentlichung des Ulysses 1922 wurde Bloom […] das Opfer von Klischees. Man nennt ihn ‘den kleinen Mann’, obwohl er mit fünf Fuß neuneinhalb Zoll (1,75m), wie es sich für Odysseus gehört, größer als der durchschnittliche Dubliner ist. Auch trägt er keine anonymen Gesichtszüge: ‘weil er ja sehr hübsch war’, erinnert sich Molly an ihre Verlobungszeit, und ‘seine Zähne die warn klasse ich hab richtig Hunger gekriegt von wie ich sie ansah’. Dazu ist er auf unauffällige Weise geistreich, und wenn er nicht, wie am Bloomstag, mit unerträglichen Sorgen belastet ist, kann er, was in Dublin viel gilt, ein schlagfertiger Mann sein.”

“Am allerwenigsten ist er, wofür er leicht gehalten werden kann, der vom Schicksal Übersehene ohne wirtschaftliche Absicherung, der auf Sand baut. Zu einer Zeit, da, wie uns Sean O’Faoloin in Vive Moi! erzählt, ein Polizist in Cork eine Familie mit einem Pfund pro Woche unterhielt, hat Bloom Einnahmen von fünf Guineen unmittelbar zu erwarten, dazu Bargeld auf der Bank, das sechs Monatsgehälter von Stephen ausmacht, und darüber hinaus könnte er die meisten Leute, mit denen er am Bloomsday zu tun hat, in die Tasche stecken, würde er seine Versicherungen und Wertpapiere liquidieren, die insgesamt fast 1500 Pfund ausmachen. Irland, bekräftigt er, ist seine Heimat, aber er ist nicht irisch genug, um sein bescheidenes Einkommen zu vertrinken.”

Über Blooms Ähnlichkeiten mit dem homerischen Odysseus schreibt Hugh Kenner: “Statur, relativer Wohlstand, ein hochgelegener Wohnort, männlich schöne Züge, polysemer Witz, eine bekanntermaßen schöne Frau: Man könnte, wenn auch irreführenderweise, sagen, daß Bloom die hervorstechenden Eigenschaften seines Urbildes, des homerischen Stammesfürsten, besitzt. […] Ulysses will uns beim ersten Auftreten Blooms glauben machen, daß ein alltäglicher Mann seiner Frau das Frühstück bereitet, und wird später diesen Eindruck von Normalität so unmerklich modifizieren, daß wir außerordentliche Aufmerksamkeit mit verschiedenem zusätzlichem Wissen vereinen müssen, wie der Lage der Eccles Street, der Körpergröße der Iren, dem Wert des Pfundes zur Jahrhundertwende, um überhaupt etwas Außergewöhnliches wahrzunehmen. Joyce ist so listig wie sein mythischer Held, dessen übliche Strategie es war, seine Identität zu verbergen.”

Marion (Molly) Bloom

Molly Bloom wurde am 8. September 1870 geboren und stammt väterlicherseits von irischen und mütterlicherseits von spanischen und jüdischen Vorfahren. Sie ist Kunstsängerin.
“Joyce schreibt seiner Heldin den Charakter einer Frau zu, wie ihn Nora [seine Frau] ihm gezeigt hat, und nicht den Charakter […] eines verantwortungslosen, leidenschaftlichen, romantischen Geschöpfs.” Er sagte auch, Molly sollte das “vollkommen gesunde, volle amoralische befruchtbare unzuverlässige fesselnde gerissene beschränkte vorsichtige gleichgültige Weib” darstellen.

“Abgesehen von ihren Urbildern, ist Molly eine Frau, die viel mißverstanden worden ist. Der berühmte Monolog, worin ‘das Fleisch zum Worte’ wird, verdient seinen Ruf als Gipfelpunkt der Promiskuität nicht, noch paßt auf ihn die Beschreibung, wie sie der Schriftsteller Frank O’Connor gibt, als Gipfel der grausamen, unfairen und antiweiblichen Sezierung. Wäre Molly wirklich ‘zwanglos’ in ihrem Geschlechtsverkehr, so hätte sie Joyce nicht zu seiner Heldin gemacht, denn er brauchte eine durchschnittliche Frau […]. Es ist zwar richtig, daß Bloom, und mit ihm spätere Kritiker, nicht weniger als fünfundzwanzig Geliebte Mollys aufzählen, doch bei näherer Prüfung enthält die Liste einige ausgefallene Namen: Da finden sich zwei Priester, ein Oberbürgermeister, ein Ratsherr, ein Gynäkologe, ein Stiefelputzer, ein Professor. Das Buch macht deutlich, daß sie bei den Priestern gebeichtet hat, den Gynäkologen konsultierte und mit den übrigen kokettierte. […]
Die beiden Liebhaber, die Molly seit ihrer Heirat hatte, sind Bartell d’Arcy und Boylan. […] Wenn man auch den Ehebruch nicht durch seine geringe Häufigkeit entschuldigen kann, so ist doch ihr Benehmen angesichts der Tatsache, daß ihr Gatte während elf Jahren […] mit ihr keine angemessenen sexuellen Beziehungen unterhielt, nicht ganz unverständlich.”

Stephen Dedalus (und seine Beziehung zu Leopold Bloom)

“Wer das wohl sein mag? fragte er. Da können Sie noch fragen?
Stephen, der jugendliche Barde!”

Stephen Dedalus ist die Hauptperson in “Ein Porträt des Künstlers als junger Mann”, worin seine Persönlichkeitsentwicklung fast zeitlupenhaft geschildert wird. Die Ähnlichkeiten zwischen Joyce selbst und seiner Figur Dedalus sind nicht zu übersehen, nicht umsonst nennt man das Porträt einen autobiographischen Roman.
Stephen wird Leopold Bloom (der gewissermaßen den standardisierten, sozial eingegliederten Großstadttypus repräsentiert) als über seine Umgebung emporragender Individualist gegenübergestellt. Mit vielen autoporträtierten Zügen von Joyce ausgestattet, wird er sowohl in angleichende wie kontrapunktische Beziehung zu Bloom gebracht. Er schreitet nicht, wie dieser, in agiler Geschäftigkeit und Neugier durch das Leben, sondern als geistiger Experimentator, traditionsbewußt auf alten Wegen wandernd und angetrieben von einer inneren Leidenschaft, neue zu erforschen. Gleichzeitig ist er auf der Suche nach seinem geistigen Vater. Stephens Suchen vollzieht sich nicht zielbewußt, sondern wird durch viele unterirdische, scheinbar zufällige Fäden gelenkt, die ihn durch sein Labyrinth führen, wobei schließlich die beiden scheinbar völlig entgegengesetzten Typen (Jedermann-Figur Bloom und Künstlergestalt Dedalus) langsam miteinander verknüpft werden: zwei Menschen, die bei aller geistigen Niveaudifferenz dennoch häufig gemeinsame Reaktionen offenbaren. Ihr erstes Zusammentreffen ist unbedeutend, beinahe schattenhaft, nur eine flüchtige Begrüßung.

 
Es findet in dem Bibliotheksgebäude statt, dort, wo ein eingehendes Gespräch über Kunst zwischen Stephen und seinen intellektuellen Freunden geführt wird, während Bloom nur wegen einer geschäftlichen Information vorbeischaut. “Es ist eines der aufschlußreichsten Kapitel des ‘Ulysses’, die geistige Analyse des Kunst- und Künstlerproblems betreffend, wobei die Deutung des Genies, des Sonderfalles (polar zu Bloom), in den Vordergrund tritt. Genie ist geistige Vielgestalt, ‘myriadminded’. Shakespeare steckt selbst in allen seinen Geschöpfen: ‘Er ist Hamlet, Vater und Sohn, Jago und Mohr zugleich. Er ist alles in allem, gleichzeitig handelnd und erleidend – vor allem aber sich selbst Norm für Erfahrung, Material und Moral’, das was der werdende Künstler Dedalus am Ende des “Jugendbildnisses” von sich, dem Dichter forderte.”
“Wir schreiten durch uns selbst dahin, Räubern begegnend, Geistern, Riesen, alten Männern, jungen Männern, Weibern, Witwen, warmen Brüdern. Doch immer imgrunde uns selbst.”

Erzählform – Erzählperspektive

Eine gewöhnliche Angabe der Erzählform ist hier nicht möglich, denn Joyce benutzt “alle Erzähltechniken, die ihm zur Verfügung stehen, und erfindet noch eine Reihe neuer hinzu. Einheitliches Erzählen gibt es in diesem Werk nicht.” Der objektive Erzähler wechselt immer wieder mit dem subjektiven oder dem Ich-Erzähler – die Perspektive, aus der erzählt wird, verändert sich ständig. Schon rein äußerlich weicht die Form von der einer Prosaerzählung ab. Der Roman nimmt u.a. die Form einer Zeitung oder eines Dramas an, es finden sich Verse in ihm, Kataloge, Buchlisten, auch Noten und eine Opernouvertüre. Es gibt im englischen Original auch Schilderungen im genau nachgeahmten Stil früherer Dichter (Swift, Dickens, …).
Daß Joyce die Form der jeweiligen Abschnitte nicht beliebig wählt, ist klar. Ich möchte als Beispiel nur die beiden letzten Episoden heranziehen, in denen Bloom und seine Frau Molly archetypisch als das männliche und weibliche Prinzip kontrastiert werden. Das Bloom gewidmete Ithaka-Kapitel ist in der Form eines Katechismus geschrieben, bei dem alles in ein Frage-Antwort-Schema aufgelöst wird – dies soll die männliche, wissenschaftlich-dialektische Denkweise zum Ausdruck bringen. Dem wird im Schlußkapitel das Prinzip des Weiblichen gegenübergestellt. In einem langen inneren Monolog, der ohne jegliche Interpunktion durch das Bewußtsein Molly Blooms flutet, werden deren Erinnerungen, Gefühle und Assoziationen ausgedrückt, die ohne raumzeitliche Koordinaten in einem irrationalen Bewußtseinsstrom dahinfließen.

Einem Zufall ist es zu verdanken, daß ich verschiedene Übersetzungen vergleichen konnte. In einer älteren Ausgabe von 1966 wurde noch weitaus weniger auf die Form des Originals geachtet, als in einer Übersetzung von 1996. In letzterer wurden etwa altenglische Passagen ins Althochdeutsche übertragen, während man früher lediglich einen “altertümlich” klingenden Ton und eine etwas eigentümliche Satzzeichensetzung wählte.
Als kurzes Beispiel zwei Übersetzungen der gleichen Textstelle:
1996 (von Hans Wollschläger): “Ein ligestat von maneger wevrowen hande sorgen vn heilzam ezzen geruochliche vn windelen rinecliche alz wan die gebvrt iez wær beschehen vnde von vorsiht wisliche volendet…”
1966 (von Georg Goyert): “Ein Lager mit wartenden Hebammen gesunde Nahrung reinste Windeln als wenn die Geburt jetzt schon geschehen wäre und alles in weiser Voraussicht bereitet…”

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