Erzähltechnik
Strukturell wird „Arnes Nachlaß“ von zwei Handlungssträngen – Gegenwart und Vergangenheit – bestimmt, die sich ineinander verweben. Den Großteil der Handlung machen zwar Hans monologartige Erinnerungen aus, wenn er anhand der einzelnen Habseligkeiten die letzten beiden Jahre retrospektivisch an sich vorbeiziehen lässt. In diese Erinnerungen bricht jedoch immer wieder die Gegenwart in Form von Hans Vater, Wiebke und Lars ein, die in Hans Zimmer kommen und dialogisch mit Hans über Arne reden.
Diese Gegenwartsebene bestimmt auch die erzählte Zeit des Romans: Die eigentliche Handlung beginnt am frühen Abend, als Hans mit dem Verpacken des Nachlasses beginnt und endet spät in der Nacht, als Hans damit fertig ist. Die Zeitdauer der Vergangenheitsebene beträgt dagegen zwei Jahre: Von dem Tag an als Arne zu Hans Familie kam bis zu dem Tag als er verschwand.

Der tragische Ausgang von Arnes Geschichte wird gleich zu Anfang angedeutet: „Gewiß hätte niemand von uns geglaubt, daß du uns einmal ein dauerhaftes Rätsel aufgeben und uns zurücklassen würdest in Trauer und Bewunderung“ (S. 11). Durch die Vorwegnahme des Endes kann sich der Leser schließlich ganz auf das „warum“ des Selbstmords konzentrieren.

Erzählperspektivisch gesehen übernimmt Hans die Rolle des Ich-Erzählers. In einem inneren Monolog läßt er die Zeit mit Arne an sich vorbeiziehen. Wir als Leser sehen die Romanwelt durch Hans Augen, gewinnen dabei aber durchaus den Eindruck einer neutralen Schilderung.
Um Hans objektiver zu charakterisieren, wechselt Lenz diese Perspektive an manchen Stellen: Wir sehen dann den verantwortungsbewußten Hans, wie er selber von außen gesehen wird. Beispielsweise sagt der Vater zu Arne: „Ihm [Hans] kannst Du Dich anvertrauen, er ist der Älteste“ (S. 17) und der Lehrer bemerkt „Es ist gut, Hans, daß Arne sie hat“ (S. 50).

Durch die dialoghafte Hinwendung zu Arne wird dessen Anwesenheit plastisch heraufbeschworen: „Ach Arne, an diesem Abend brachte ich es einfach nicht fertig, deine Hinterlassenschaft einfach einzusammeln und still wegzuräumen …“ (S. 8).
Aufgrund der herumliegenden Erinnerungsstücke glaubt Hans tatsächlich „Arnes Anwesenheit zu spüren“ (S. 7). Und als er Schritte auf der Treppe hört überlegt er sogar, wie er Arne nun erklären soll, warum er „seine Sachen eingesammelt und zusammengepackt hatte“ (S. 205). Durch solche Szenen ist Arne auch für den Leser, der das Romangeschehen ja durch Hans Augen beobachtet, förmlich anwesend.             
Arnes Nachlaß: Inhalt
Hamburg, am Abend: der siebzehnjährige Hans ist dabei, Arnes Hinterlassenschaften zu verpacken. Jeder Gegenstand ruft neue Erinnerungen hervor, die Hans in einem inneren Monolog wie an einer Perlenschnur aufreiht.

Der Waisenjunge Arne war vor zwei Jahren als Pflegekind zu Hans Familie gekommen. Arnes verschuldeter Vater war mit der ganzen Familie freiwillig in den Tod gegangen. Nur durch Zufall wurde der zwölfjährige Arne wiederbelebt und von Hans Vater, einem langjährigen Freund von Arnes Vater, aufgenommen.

Zunächst scheint sich der schmächtige, sensible Arne in dem Haus an der Abwrackwerft, die Hans Vater betreibt, schnell einzuleben. Die Eltern nehmen ihn liebevoll auf, in Hans, dem Ältesten, findet der Junge einen brüderlichen Freund. Weil er nicht über die Tragödie sprechen will, bleibt er den jüngeren Geschwistern Wiebke und Lars jedoch suspekt. Arne wiederum wünscht sich nichts sehnlicher also von Lars Clique anerkannt und aufgenommen zu werden.

Die Ereignisse spitzen sich ihrem dramaturgischen Höhepunkt zu, als Lars und seine Freunde für den Sommerurlaub ein Boot mieten wollen. Da das Geld dafür fehlt, sollen Messingbarren aus dem Kontor von Hans Vater gestohlen und veräußert werden. Die Clique sichert Arne zu, bei der Fahrt dabei sein zu dürfen, wenn er seinen Freund Kalluk, den Nachtwächter, ablenkt. Als Kalluk den Einbruch vorschnell entdeckt, wird er zusammengeschlagen.

Arne versucht verzweifelt, seine Tat wiedergutzumachen und bringt den verletzten Kalluk in seine Wohnung. Dieser jedoch läßt ihn seine Enttäuschung deutlich spüren, ebenso Hans Vater, dem der von Schuldgefühlen übermannte Junge am nächsten Morgen alles berichtet. Lars und Wiebke würdigen den in ihren Augen verräterischen Ziehbruder keines Blickes mehr. Da nimmt Arne sich ein Boot und fährt auf die Elbe hinaus. Hans, der ihn wegfahren sieht und ihm – wissend daß Arne nicht schwimmen kann – hinterher fährt, findet nur noch das leere Boot.

Während Hans seinen Gedanken nachhängt, kommen Wiebke, der Vater und Lars in sein Zimmer und sehen beim Verpacken zu. Der Leser erfährt von der Verzweiflung des Vaters angesichts Arnes sinnlos erscheinender Tat; von Wiebkes versteckter, trotziger Zuneigung zu ihm und Lars, den Arnes Tat überhaupt nicht zu berühren scheint.

Der Roman endet damit, daß Lars noch einmal Hans Zimmer betritt, den zusammengepackten Nachlaß wieder auspackt und jedes Stück zurück an den gewohnten Platz stellt. Das letzte Wort hat Hans: „Keiner von uns nannte Arnes Namen, und doch wußte ich, daß wir ihn uns beide zurückwünschten, in der vollkommenen Stille, die uns jetzt umgab.“ (S. 207)             
Arnes Nachlaß: Interpretationsansatz
Wie in einer klassischen Tragödie nimmt die Handlung in dieser stillen, aber intensiven Romanwelt ihren Gang. Sie läßt sich durch keinen väterlichen Zuspruch, durch kein freundschaftliches Wort aufhalten. Den Leser und auch die anderen Romanfiguren bewegt die ganze Zeit die Frage: Warum hat Arne sich denn eigentlich umgebracht?

Siegfried Lenz erklärte in einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt (Ausgabe vom 14. August 1999): „Es geht um das Dilemma des arglosen Menschen in einer Welt, die ihm ganz andere Spielregeln nahelegt. Arne scheitert ja schließlich an seiner Sehnsucht, in diese kleine, überschaubare Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Er scheitert aus Arglosigkeit und der Unfähigkeit, seine Prinzipien aufzugeben.“
Arne folgt, das erklärt uns auch Hans, anderen Spielregeln als der Rest der Welt. Wo er abgelehnt wird, biedert er sich umso mehr an. So erkauft er sich das Dabeisein auf der „Winnie“ indem er die Reparatur finanziert. Durch die Mithilfe beim Diebstahl versucht er sich die Mitreise auf dem Kutter zu erschleichen. Dabei verwechselt er jedoch Geduldet-Sein mit Aufgenommen-Sein und ist unfähig zu akzeptieren, daß man Freundschaft nicht erkaufen kann.

In seinem preisgekrönten Aufsatz beschreibt Arne die dunklen, vergessenen Seiten des Hamburger Hafens und bekommt dafür nur den zweiten Preis. Der erste Preis geht an „Ein Fest fürs Auge“ (S. 40), die Beschreibung eines bombastischen Hafenfestes. Dessen Verfasserin kann zwar fast nicht lesen, dafür ist sie hübsch und gefällt: Sie beherrscht die Spielregeln. Arne steht in seiner Tiefgründigkeit dagegen immer etwas im Abseits. Zu sehr gemahnt er uns an die dunkleren Seiten des Lebens, die wir lieber verdrängen. Seine Altersgenossen reagieren darauf instinktiv, ihnen ist Arne schlichtweg nicht cool genug. Reifere Personen wie Hans oder Kalluk liegen dagegen eher auf seiner Wellenlänge: Der Junge scheint seinem Alter voraus, überreif zu sein. Jedoch nicht reif genug, um sich selbst so zu akzeptieren wie er ist und sich mit der Nichtakzeptanz von Lars Clique abzufinden.

Arne hat andere Werte als seine Altersgenossen und kann sich nicht in sie hineinversetzen. Wenn er einen Nachmittag mit Winnie verbringt, sie aber dann aus ehrlichem Verantwortungsbewußtsein ihren Eltern ausliefert, wundert es uns nicht, daß Winnie sich verraten fühlt. Das gleiche Spiel wiederholt sich nach dem Diebstahl: Arne gesteht aus schlechtem Gewissen und stößt sich damit selbst aus der Gruppe aus. Ihre Zurückweisung zusammen mit der für ihn untragbaren Schuld, die er auf sich geladen hat, kann er scheinbar nur durch seinen „Ausfall“ begleichen. Das Schicksal seines Vaters wiederholt sich in tragischer Weise an ihm.
Dabei schenkt Hans Vater dem geständigen Arne im Moment der größten Not noch ein „Buddelschiff“. Und was tut Arne mit dieser Liebesgabe? „Er übersah es, vergaß es“ (S. 197). Arne vergißt das Geschenk, so wie er vergißt, daß es auch Menschen gibt, die ihn lieben und daß die Zurückweisung einiger weniger nicht das Ende aller Tage sein sollte.

Erzähltechnisch bleibt Arne eine Leerstelle im Roman, er selber kommt nicht zu Wort. Und so wie die anderen Figuren die Leerstelle nicht wirklich füllen können, bleiben auch Arnes Beweggründe für seinen frei gewählten Tod letztendlich unverständlich. An Arnes Beispiel wird deutlich, was doch schon jeder weiß: Ein jeder ist allein, niemand kann einen anderen ganz verstehen. „In der vollkommenen Stille, die uns jetzt umgab“ (S. 207) bleiben Hans, Wiebke, Lars und der Vater zurück. Und auch sie werden mit ihren Gefühlen am Ende allein gelassen. 
             
Personen
In „Arnes Nachlaß“ hat es der Leser mit dem merkwürdigen Fall einer Hauptfigur zu tun, die nicht selber das Wort erhebt, sondern nur durch die Erinnerungen ihrer Mitmenschen lebendig wird. Die Figur Arnes bleibt demnach eine Leerstelle. Alle anderen Romanfiguren nähern sich dieser Leerstelle zwar an, letztendlich wird sie jedoch nie ganz ausgefüllt. Und so bleiben Arnes innerste Gefühle und die Motive für seinen Selbstmord letztendlich verschleiert, im Dunkeln.

Bildlich gesprochen gruppieren sich Hans, Wiebke, Lars und Hans Vater wie ein Mandala um Arne, die Leerstelle in ihrer Mitte, herum. Jede Figur schildert den Protagonisten aus einer anderen Perspektive, so daß sich schließlich eine Annhäherung, ein quasi-Gesamtbild ergibt.

Hans
Hans ist der brüderliche Freund Arnes, dem der Jüngere blind vertraut. Es ist Hans, der das Psychogramm Arnes für uns zeichnet und dabei stets eine gewisse Objektivität bewahrt. Hans bemerkt zwar sehr wohl Arnes Schwäche, seine übergroße Sensibilität, seine Sehnsucht nach Liebe. Im Gegensatz zu seinen Geschwistern ist er jedoch reif genug, diese Sensibiliät nicht auszunutzen, sondern zu schätzen. Als ältester Sohn steht Hans gewissermaßen über den Dingen und wird im Gegensatz zu seinen jüngeren Geschwistern als Erwachsener behandelt. Die besorgten Eltern schieben ihm sogar einen Teil der Verantwortung für Arne zu: „Sie gaben mir zu verstehen, daß Arne mehr an mir hängt als an allen anderen … sie waren sicher, daß er unter meinem Einfluß zurückfinden würde zu gewohnter Ausgeglichenheit“ (S. 163).

Wiebke
Wiebke ist zwar im gleichen Alter wie Arne, erscheint im Gegensatz zu diesem jedoch oberflächlich und gefühllos. Sie interessiert sich vor allem für die Einzelheiten des Familienselbstmords und nutzt Arnes Zuneigung dazu aus, ihn ohne Rücksicht auf seine Gefühle danach zu befragen. Hans drückt es so aus: „Da wußte sie, daß du ihr nichts abschlagen würdest, und sie fragte dich zum zweiten Mal, wie das Unglück bei euch zuhause geschah und ob du dich noch an die Zeit erinnern könntest, als du tot warst. (S. 52) In ihrer Clique will Wiebke Arne jedoch nicht haben und auch das Aquarium mit den Fischen, das Arne ihr hinterlassen hatte, will sie zunächst nicht behalten.

Zwar hat Wiebke einen Nachmittag mit Arne auf dem Hamburger Dom verbracht, aber nur widerwillig gibt sie zu: „Zuletzt habe ich gemerkt, daß er auch fröhlich sein kann und übermütig, es hat mir richtig Freude gemacht, mit ihm herumzuziehen“ (S. 143).
Wiebkes Perspektive ist die des weiblichen Teenagers, der sich Arnes Zuneigung gar zu sicher ist. Zu Lebzeiten war Arne ihr nicht cool genug, sein Tod zwingt sie jedoch dazu, ihre Gefühle ihm gegenüber noch einmal zu überdenken. Letztendlich entschließt sich Wiebke, halb trotzig, Arnes Hinterlassenschaft, das Aquarium zu behalten und damit ihre Zuneigung zu Arne zuzugeben: „Ich [Hans] bot ihr an, das Aquarium in mein Zimmer zu bringen, doch Wiebke nahm meine Hilfe nicht an und ließ erkennen, daß sie es leicht trug.“ (S. 152).

Lars
Ähnlich wie Wiebke zeigt auch Lars, welchen Eindruck Arne zunächst bei seinen Altersgenossen zu erwecken scheint. In vieler Hinsicht bildet Lars das genaue Gegenstück zu seinem Ziehbruder. Während Arne das Leben zu ernst nimmt, nimmt Lars es zu leicht. Wo Arne sich schon viel zu früh Gedanken über seine berufliche Zukunft macht, ist Lars leichtfertig. Von Hans erfahren wir: „Lars hatte die Schule schon wieder hinter sich, hatte die Ausbildung knallfall abgebrochen, so, wie er auch die Zeit auf der Seefahrtsschule vorzeitig beendet hatte“ (S. 73).
Lars findet die Anerkennung, die Arne sucht: Er kommt bei seinen Altersgenossen an, ist in seiner Clique der anerkannte Boss. Lars zettelt den Diebstahl der Metallbarren an und versucht skrupellos selbst nach Arnes Tod noch, dessen Sparbuch an sich zu bringen: „Gib das Buch her, sagte ich [Hans]. Lars weigerte sich.“ (S. 74).

Doch auch Lars überrascht uns am Ende des Romans mit einer neuen Sensibilität. Fast scheint es, als habe er mit Arne die Rollen getauscht: „Es waren seine [Arnes] behutsamen Schritte, die sich da näherten, für einen Augenblick gab es keinen Zweifel daran“ (S. 205). Doch dann ist es nicht Arne, sondern Lars, der hereinkommt. Und am Ende ist Lars derjenige, der wortlos, weil ihm die Worte fehlen, Arnes Habseligkeiten wieder auspackt und so die Verzweiflung angesichts seines Todes auszudrücken versucht.

Harald (Hans Vater)
Harald, Hans Vater, kommt zwei Mal in das Zimmer, in dem Hans den Nachlaß verpackt. Der Tod des Jungen scheint ihn nicht loszulassen. Er ist derjenige, von dem wir Einzelheiten über Arnes Familie erfahren. Harald ist hilflos und verzweifelt angesichts der sinnlosen Tat nicht nur seines besten Freundes, sondern auch Arnes, dessen Selbstmord er nicht verhindern konnte.
Ein tiefes Verständnis für den Jungen zeigt sich im gesamten Roman: „So war es, sagte mein Vater, so war unser Arne, was er aufnahm, das ging nicht mehr verloren, das besaß er und trug es mit sich herum“ (S. 30). Wenn Harald über Arne spricht, spricht damit eine tiefe Lebenserfahrung mit: Der Ziehvater zeigt uns Arne aus der Sicht eines Erwachsenen.            
Biographie
Siegfried Lenz, der am 17. März 1926 in Lyck, einer kleinen Stadt im masurischen Ostpreußen geboren wurde, zählt seit langem zu den bedeutendsten Autoren der deutschsprachigen Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur.

Nachdem Lenz aus englischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden war, ging er nach Hamburg und studierte Philosophie, Anglistik und deutsche Literaturgeschichte, ehe er 1950/51 als Redakteur für die "Welt" arbeitete. Seit 1951 lebt er als freier Schriftsteller in Hamburg. Bereits mit seinem ersten Roman gelang es ihm, die Kritik und die Leser für sich einzunehmen, und bis heute zeichnet sich Lenz' Werk dadurch aus, daß es menschliche Schicksale und aktuelle gesellschaftliche Fragen auf eine Weise verknüpft, die literarisch ambitioniert die Bedürfnisse breiter Leserschichten nicht vernachlässigt.

Weite Teile des Lenzschen Werkes sind geprägt durch die Auseinandersetzung mit gesellschaftskritischen Problemen (etwa die Romane "Der Mann im Strom", 1957, oder "Brot und Spiele", 1959, einer der wenigen geglückten Sportromane der deutschen Literatur) und mit dem Dritten Reich bzw. seiner Verarbeitung. Zu Lenz' größtem Erfolg wurde dabei der 1968 erschienene Roman "Deutschstunde", der auch international zu einem bahnbrechenden Erfolg wurde. Wie der junge Siggi Jepsen darin die Geschichte seines Vaters, eines norddeutschen Polizisten, der es im Nationalsozialismus für seine Pflicht hält, das Malverbot seines Freundes Nansen zu überwachen, erzählt, ist eine bis heute bestechende Demaskierung eines pervertierten Pflichtbegriffs und wurde von vielen als befreiende künstlerische Auseinandersetzung mit diesem Thema verstanden.

Der "Deutschstunde" folgten viele große Romane ("Heimatmuseum", 1978, "Der Verlust", 1981, "Exerzierplatz", 1985 oder "Die Auflehnung", 1994), die Lenz unverrückbar an die Seite der ‚großen' deutschen Gegenwartsautoren wie Heinrich Böll, Günter Grass oder Martin Walser stellten. Sein Werk umfaßt alle literarische Gattungen: Lenz arbeitete für das Theater ("Zeit der Schuldlosen", 1961), schrieb Hörspiele ("Haussuchung", 1967) und Essays ("Über den Schmerz", 1997), und für viele Leser ist er nicht zuletzt ein Meister der "kleinen Form". Seine oft humoristisch grundierten Erzählbände wie "So zärtlich war Suleyken" (1955), "Lehmanns Erzählungen" (1964) und "Der Geist der Mirabelle" (1975) belegen dies trefflich.

Siegfried Lenz wurde für sein Œuvre mit zahlreichen Ehrungen ausgezeichnet, darunter der Gerhart-Hauptmann-Preis, der Bayerische Staatspreis für Literatur, der Thomas-Mann-Preis, der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und zuletzt, 1999, der Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main. Seine Auszeichnungen galten dem literarisch unvergleichlichen Werk, und sie rühmten immer auch das unerschrockene Engagement des Autors.            
Symbole, Bilder und Metaphern
Möwe und Leuchtturm (S. 16)
Beim Einzug in die Familie übergibt Arne als Gastgeschenk eine Möwe aus Walroßzahn „eine Heringsmöwe … offenbar in Verteidigungshaltung … wer sie nur ansah, hörte sie schreien“ (S. 16) und erhält von Hans Vater einen Leuchtturm als Gegengeschenk. Die Geschenke bezeichnen metaphorisch den Austausch, der auf der menschlichen Ebene vor sich geht: Hans Familie fliegt sozusagen ein Schützling zu, der zwar nie klagt, dessen Leid jedoch nicht zu übersehen ist. Arne dagegen erhält einen Leuchtturm, einen festen Halt.

Lateinisches Zitat (S. 68)
Arne übersetzt für Hans folgenden Satz aus dem Lateinischen: „So tragt ihr Wolle, o Schafe, nicht für euch / So macht ihr Honig, o Bienen, nicht für euch / So zieht ihr Pflüge, o Rinder, nicht für euch.“ (S. 68) Dieses Zitat bezeichnet symbolisch die Auswirkungen von Arnes Selbstmord. Ihm selbst wird dieser zwar zum tragischen Schicksal, seine Altersgenossen, stellvertretend verkörpert von Lars und Wiebke, scheint die Tat jedoch tief zu berühren. Beide gewinnen durch den nicht rückgängig zu machenden Vorfall eine neue Sensibilität und werden so in der Initiation zum Erwachsenen unterstützt. Auch Hans und seine Eltern werden emotional berührt durch die Tat zu einer Reflektion des Lebens selbst angeregt.

Krabbe, Stelzengänger und der durstige Vogel (S. 169)
Beim Bleigießen an Silvester gießen Hans, Hans Vater und Arne jeweils für sie bezeichnende Motive. Die Krabbe, die „wie zur Verteidigung ihre Scheren emporstreckte“ (S. 169) ist ein deutliches Bild für den von seinen Altersgenossen ständig angegriffenen, unverstandenen Arne. Hans Vater gießt einen „Stelzengänger“, der sich „schönere Standorte“ (S. 169) sucht: Scheinbar möchte auch er dem tristen Leben auf der Abwrackwerft und der Härte des Lebens am liebsten davonlaufen. Hans erhält einen „durstigen Vogel, der trinkt“ (S. 169). Dieses Bild könnte auf die Initiationsthematik des Romans verweisen: Im Gegensatz zu Arne, der sich dem Leben durch den Tod entzieht, trinkt Hans das Wasser des Lebens durstig in sich hinein. Er läuft seinen Gefühlen nicht davon, sondern stellt sich das ganze Romangeschehen über beobachtend und reflektierend der Realität.

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