S. 6: Die Kundschafter verlassen das Lager
(1) „Warum bist du so traurig, Quintus?“ Mit diesen Worten sprach Marcus Probus, der Kundschafter der 16. Legion, Quintus Pudens, seinen Freund, an, der in der Nähe des Zelts saß; er selbst dachte über sein Haus und die Stadt Rom nach.
(5) „Es ist nichts, Marcus. Ich bin nicht wirklich traurig. Über Flavia, meine Ehefrau, denke ich nach und überlege, wann wir wohl aus Germanien fortgehen und nach Hause zurück gehen können; auch über die Unternehmung, die diese Nacht ansteht.
(9) „Ja“, meinte Marcus, „etwas ungeheuer Wichtiges wird in Bewegung gesetzt (werden). Der Heerführer nämlich will den Fluss da überqueren. Darum müssen wir möglichst viel herausfinden, um ihm über alles Bericht zu erstatten. Also lass uns das Lager verlassen, um den Hügel, der hinter dem Wald dort liegt, hinauf zu steigen. Von dort aus können wir sowohl den Fluss als auch die Stadt Neuss beobachten, obwohl sie weit entfernt ist. Wenn wir mit größter Sorgfalt vorgehen (vorgegangen sein werden), können wir (Fut.) vielleicht zum höchsten Punkt des Hügels gelangen und irgendetwas Neues erfahren.“
(18) „Gut, lass uns sofort gehen!“, antwortete Quintus und erhob sich. Aber sobald die beiden Kundschafter ans Vordertor des Lagers angekommen waren, (sagte) der Zenturio, der die Wachen befehligte: „Bleibt stehen, Männer! Wohin geht ihr?“ – „Zu jenem Wald!“ sprach Quintus. „Wir möchten versuchen, ob wir vielleicht etwas Neues erfahren können.“ – Der Zenturio kam näher, dann erkannte er die beiden Freunde. „Ach ja!“ sagte er, „Ihr seid die Kundschafter. Gut, ihr dürft gehen. Aber denkt daran, dass ihr innerhalb von zwei Stunden zurück kommen müsst, weil der Heerführer eine Versammlung einberufen hat und auch ihr zweifellos anwesend sein müsst!“ – Marcus sprach: „Wir werden rechtzeitig zurück kommen“, und schnell gingen sie durch das Tor.
S. 8: Ein Junge wird aus einer Gefahr gerettet
(1) Nachdem sie eine kleine Brücke überschritten hatten, eilten sie mit schnellem Schritt voran, bis sie den Waldrand erreicht hatten. Dann folgten sie einem kleinen Pfad. Doch die von allen Seiten dichten Bäume machten den Marsch schwierig, so dass Quintus und Marcus nur mühsam voran kamen. Kurz darauf flüsterte Quintus, der voran ging, plötzlich: „Bleib stehen! Hörst du nicht das Geräusch?“ – Ein Weilchen verharrten beide in Schweigen. Dann sagte Marcus: „Ich habe zwar ein Geräusch gehört, aber es schien mir eher ein Stöhnen zu sein. Lass uns ein wenig weiter dorthin vorstoßen, wo die Bäume weniger dicht sind!“ – In vollkommenem Schweigen krochen sie voran, bis sie eine Stelle, die etwas tiefer lag, erreichten. Sofort stockten sie, bestürzt durch den schrecklichen Anblick.
(11) Zwischen den Bäumen lag ein nicht eben großer freier Platz, und in der Mitte (war) ein gewaltiger Felsblock. Etwa 10 Germanen mit äußerst wilden Mienen und Dolche tragend umstanden jenen Felsbrocken, an dem ein Junge oder Jüngling zum Teil liegend sich mit allen Kräften deren Händen entriss. Aber obwohl er es äußerst tapfer versuchte, erreichte er nichts und konnte – weil der Mund mit Fell verschlossen war – keinen Ton heraus bringen. – „Sieh!“ sprach Quintus, „Ohne Zweifel sind sie im Begriff, ihn zu töten. „Wir müssen sie daran hindern. Lauf du schnell ans andere Ende! Sammle möglichst viele Steine und fange, sobald du fertig bist, an zu schreien und stürz dich die Steine werfend auf diese Barbaren! Ich werde dasselbe tun; so werden wir jene vielleicht verwirren.“
(24) Und nicht anders/genau so wurde die Angelegenheit durchgeführt. Vier Germanen wurden beim ersten Angriff von Steinen verwundet, so dass sie, weil sie glaubten, eine große Anzahl Feinde sei anwesend, vom Jungen abließen und unverzüglich in den Wald flohen.
(28) Die zwei Freunde befreiten den Jungen sofort. Doch kaum hatten sie das Fell entfernt, rief jener aus: „Schnell! Flieht schnell!“ – „Warum sagst du ‚flieht’? Die da werden nicht zurück kommen.“ – Der Junge antwortete: „vielleicht werden die nicht zurück kommen, aber viele andere werden bald hierher kommen, um eure Tat zu rächen.“ – Zuerst zögerten die Römer; danach aber traten sie, bewegt von den Bitten des Jungen und eingedenk der nächtlichen Unternehmung, den Rückweg an, um rechtzeitig das Lager zu erreichen.
S. 10: Rudgarius erzählt von sich selbst
(1) Während sie zurück gingen, sprach Quintus zu dem Jungen: „Sag, (ich) bitte (dich), mit welchem Namen sie dich rufen/wie du heißt. Und von wem hast du die lateinische Sprache gelernt? Du sprichst unsere Sprache nämlich hervorragend.“ – Ihm (antwortete) der Junge: „Ich bin Rudgarius; kürzlich kam ich von den Langobarden, die an der Elbe wohnen, zurück, wohin mein Vater mich vor vielen Monaten geführt hatte. Dort verweilten wir bei Freunden, von denen einer – er war Ritter – lange im römischen Heer gedient hatte. In einer mit den Galliern geführten Schlacht wurde er schwer verletzt und lebt nun zu Hause. Jener lehrte mich die lateinische Sprache.“ – „Aber warum wollten diese Germanen dich töten?“ – Kaum die Tränen zurückhaltend antwortete Rudgarius: „Sobald wir von Gebiet der Langobarden zurück gekehrt waren, töteten Feinde meines Vaters, die in seiner Abwesenheit den Stamm verwaltet hatten, ihn und meine Mutter, um die Macht zu behalten.“ – (14) „Also war dein Vater ein Fürst“, sagte Marcus. – Rudgarius fuhr fort: „Ja. Er war der König der Sueben; man nannte ihn Marbodius. Sein Todfeind (ihm überaus feindlich gesonnen) ist Egbertus, der nach dem Tod meines Vater jetzt mit seinen Verbündeten die Macht über unser Volk hat.“ – „Warum aber haben jene Menschen dich nicht getötet?“ – Der Junge antwortete: „Ich entkam mit Hilfe eines Onkels (aus) ihren Händen und floh in die Wälder, wurde jedoch kurz darauf ergriffen und wäre, wenn ihr nicht eingegriffen hättet, zweifellos getötet worden. Ich schulde euch, ihr besonderen Männer, großen Dank, dass ihr mich gerettet habt. Schon habe ich jenes eine vor: Ich werde mich an den Vater- und Muttermördern rächen.
S. 11: In der Versammlung der Römer
(1) Bewegt von diesen Worten schwiegen sie, bis sie am Lager der Römer angekommen waren. Nachdem sie durch dasselbe Tor, durch das sie vorher (hinaus) gegangen waren, eingetreten waren, betrachteten die Waffenbrüder von Marcus und Quintus sehr überrascht und neugierig den germanischen Jungen und wollten viel über ihn erfahren. Die beiden Freunde antworteten nicht gerade unwillig, als der Zenturio herankam und sagte: „Marcus und Quintus, ihr habt sofort mit mir zu gehen! Der Kaiser hat nämlich die Versammlung bereits einberufen und gefragt, wo ihr seid.“ – Deshalb führte Quintus (den) Rudgarius schnell zum Zelt und hieß ihn, nachdem ihm Wasser und Essen gegeben worden war, auf seine Rückkehr warten. Darauf eilte er mit seinem Freund zum Hauptquartier.
(12) Dort hielt der Kaiser mit allen Legaten und dem ranghöchsten Hauptmann eine Versammlung ab. Sobald die Kundschafter eingetreten waren, fragte er sie sofort: „Warum seid ihr so spät (gekommen)? Wisst ihr nicht, dass der Feldzug eine Angelegenheit von äußerster Wichtigkeit ist? Was wisst ihr neues?“ – Als Quintus dem Kaiser kurz von allem, was er gesehen, besonders vom germanischen Jungen, erzählt hatte, ließ er Rudgarius ohne Verzug herführen.
S. 12: Der Kaiser unterhält sich mit Rudgarius
(1) Der zunächst sehr eingeschüchterte Junge blieb neben Quintus stehen, weil er von der Anwesenheit so vieler römischer Soldaten von riesiger Furcht ergriffen war. Doch sobald der Kaiser ihn freundlich angesprochen hatte, wurde er ein wenig mutiger und antwortete gern dem fragenden Kaiser.
(5) „Wurden alle deine Verwandten getötet?“ fragte der Fürst. – Ihm (antwortete) Rudgarius: „Nicht alle. Der Bruder meines Vater ist entkommen und hält sich mit wenigen Vertrauten an einem geheimen Ort versteckt.“ – „Weißt du, wo dieser geheime Ort ist?“ – „Sicher! Aber es ist mir nicht erlaubt, ihn dir zu verraten.“ – Der Kaiser lachte und fuhr fort: „Ich will es nicht wissen, aber ich will dir deutlich offenbaren: Die Sueben haben vor, uns wieder den Krieg zu erklären. Deshalb besteht die Gefahr, dass sie sich unter Egberts Führung mit mehreren gallischen Stämmen, besonders mit den Trevern, verbinden und den Krieg mit uns erneuern. Ich werde sie, wenn ich kann, daran hindern; dein Onkel kann (Fut.) mich vielleicht unterstützen. Weißt du, ob er das tun wird?“ – „Keine Ahnung“, antwortete Rudgarius mit zweifelnder Stimme. – Der Kaiser lachte wieder: „Hab keine Angst! Sprich frei heraus, weil ich die Wahrheit hören will!“
(18) Von diesen Worten angeregt erzählte Rudgarius, dass sein Onkel Rinoldus heiße (genannt werde). Egbert und seine Genossen, die seinen Vaters ermordet hatten, hasse erschon lange. Doch Rinoldus könne auch die Römer nicht leiden, weil er der Meinung war, die Germanen würden von ihnen unterdrückt. Dennoch werde er möglicherweise die Gelegenheit nutzen und die Römer unterstützen, wenn der Kaiser die Leute, die so viele und so große Verbrechen begangen hatten, bestrafe.
(25) Als er Rudgarius’ Worte gehört hatte, sprach der Kaiser mit ernster Stimme: „In der Tat werde ich sie mit dem Tode bestrafen, weil sie nicht nur Mörder sind, sondern auch für das gesamte Gebiet, das von uns sicher gemacht worden ist, gefährlich sind!“ Darauf fragte er Rudgarius, wie er den Onkel benachrichtigen könne.
(30) Rudgarius entgegnete: „Ich glaube, es ist am besten, wenn ich selbst gehe. Denn ich kann auch in tiefster nacht ganz leicht den Ort finden, wo mein Onkel sich versteckt hat. Aber dürfen Quintus und Marcus mich begleiten?“ – Dies erlaubte der Kaiser gern, weil er der Ansicht war, dass es nicht nur der Sicherheit, sondern auch der sicheren Rückkehr Rudgarius’ diene.
(36) Darauf befahl er Rudgarius: „Sobald du deinen Onkel erreicht hast, frage ihn nach allem und gelobe ihm, dass Kaiser Hadrian, Herrscher über das römische Volk, jene Verbrecher, die seinen Bruder und dessen Frau ermordet haben, bestrafen wird, wenn er in jener Angelegenheit, die ich dir kurz erklärt habe, den Römern zur Seite steht.“
(47) Zu den Legaten gewandt: „Befehlt unseren Soldaten, Essen zu fassen und auszuruhen (sich um ihre Körper zu kümmern)! Denn es ist niemandem erlaubt, das Lager zu verlassen, bis Rudgarius zurück ist!“
S. 14: Durch den Wald zum Onkel
(1) Kurz darauf verließen Marcus und Quintus, ähnlich gekleidet wie Rudgarius und nur mit Dolchen bewaffnet, mit dem germanischen Jüngling das Lager. Anfangs führte Rudgarius sie auf demselben Weg, auf dem sie vorher marschiert waren. Aber sobald sie zu der Stelle gelangt waren, wo jener beinahe gestorben war, wendete er sich nach links. Die Bäume waren von allen Seiten so dicht, dass es keinen Pfad zu geben schien. Rudgarius schritt trotzdem tapfer voran, bis er zum Waldrand kam. Dort blieb er stehen und sagte: „Mein Onkel ist nicht weit weg von hier in einer Höhle versteckt. Diese von sehr dichten Sträuchern verdeckte Höhle kann niemand finden, der diesen Ort nicht gut kennt (wenn er nicht … kennt). Also werde ich allein vorgehen; ihr folgt mir nach kurzer Zeit in Schweigen!“
(13) Daher blieben die zwei Römer kurze Zeit zurück. Als Rudgarius fast aus ihrem Blickfeld verschwunden war, begannen sie mit größter Aufmerksamkeit dem jungen Mann zu folgen. Sie waren noch nicht weit voran gekommen, als sie plötzlich irgendeinen Mann sich von einem Baum stürzen und Rudgarius zu Boden werfen sahen. So schnell wie möglich liefen sie vor; Marcus packte die Hand dessen, der Rudgarius mit dem Dolch durchbohren wollte. Anschließend überwältigten und fesselten sie ihn mit größter Anstrengung. Rudgarius, dessen Knie noch immer zitterten, fragte den Mann in suebischer Sprache, wer er sei, woher er komme, wer ihn geschickt habe, doch jener antwortete nichts. Schließlich sagte Rudgarius zu Marcus und Quintus: „Kommt jetzt, aber ihr müsst mir wieder mit etwas Abstand folgen, weil ich mit meinem Onkel sprechen möchte, bevor er euch sieht (gesehen hat).“
(26) Nachdem sie an einer hohen Eiche angekommen waren, bedeutete er den Römern mit einem Zeichen, dort stehen zu bleiben. Nachdem er anschließend einige Zweige entfernt hatte, ging er zu einem großen Stein (vor), während er wenige Worte in suebischer Sprache rief. Es schien, als sei dieser Stein so etwas wie eine Tür. Denn er wurde von hinten ein wenig verschoben (bewegt) und einige Frauen und Männer erschienen. Obwohl sie die Worte hörten, konnten die Römer nicht verstehen, was sie bedeuteten. Endlich wurden Marcus und Quintus von den Germanen durch Zeichensprache eingeladen, sich zu nähern.
S. 18: In der Höhle Rinolds
(1) Sobald sie die Höhle, die mit reichlich (sehr vielen) Fackeln erleuchtet war, betreten hatten, erhob sich ein Mann von riesenhafter Statur (Körpergröße) von seinem Sitz. Sobald dieser den Jüngling vortreten sah, rief er sofort in größter Freude aus: „Rudgarius, teuerster Sohn meines Bruders! Ich hielt dich schon für tot. Was ist geschehen? Woher kommst (Perf.) du?“ – Kurz erzählte Rudgarius alles. Nachdem Rinoldus – jener nämlich war es – dies erfahren und den Begriff „Römer“ vernommen hatte, wurde er zunächst sehr zornig. Aber als er von Marcus’ und Quintus’ Tapferkeit gehört hatte, gab er ihnen freundlich die Hand (die Rechte). Darauf erblickte er den mit Fesseln gebundenen Mann und lachte leise: „Ihr habt mir ein Geschenk gemacht! Und was für ein äußerst willkommenes! Kennst du den denn nicht, Rudgarius? Es ist Norbert, der Sohn Egberts, eines uns ganz besonders freundlich gesonnenen Menschen!“ Nachdem er dies (diese Worte) gesagt hatte, lachte er laut und versetzte ihm einen Schlag. Dann meinte er, dieser Zufall werde dem Kaiser angenehm sein, da er jenen Kerl als Geisel behalten könne. So könne er Egbert und seine Genossen vielleicht daran hindern, sich mit den Trevern zusammen zu schließen.
(18) Kurz darauf berichtete Rudgarius dem Onkel, was der Kaiser ihm anvertraut hatte. Er fragte, ob Rinoldus bereit sei, die Römer zu unterstützen. Jener zögerte zuerst, aber Rudgarius und die Römer überzeugten ihn schließlich, mit ihnen ins römische Lager zu gehen und sich mit dem Kaiser zu unterhalten.
S. 19: Ein gemeinsamer Plan wird gefasst
Sobald sie im Lager angekommen waren, wurden sie sofort ins Hauptquartier geführt, wo der Herrscher irgendeinem Sklaven einen Brief diktierte. Als der Kaiser die kleine schar der Germanen und Römer erblickte, erhob er sich und begrüßte alle freundlich. Nachdem alle Angelegenheiten und Beschlüsse/Pläne Rinolds geschildert waren, stand der Führer lange schweigend da. Endlich sprach er: „Bravo! Euch alle lobe ich ganz besonders, weil ihr für mich und die römische Sache eine große Hilfe wart. Jetzt wollen wir unsere Pläne verbinden und eure und unsere Feinde davon abhalten, die Gallier über die Mosel zu führen und die Felder der Germanen zu verwüsten. Wenn das vollendet ist, werde ich dich, Rinoldus, zum Gebieter über die Sueben und dich, Rudgarius, zum römischen Bürger/Staatsangehörigen machen!“ Fröhlich versprachen Rinoldus und Rudgarius, so viel Hilfe zu bringen wie sie könnten. Dann reichten sie Quintus, Marcus und dem Kaiser, als es schon dämmerte, die Hände und kehrten zur Höhle zurück.
S. 20: Über den Plan Egberts
(1) Während die beiden Germanen nicht gerade schnell durch die Wälder marschierten, hörten sie plötzlich Stimmen. Sofort versteckten sie sich im nächsten Gebüsch und sahen, wie sich eine kleine Schar Bewaffneter näherte. Auf alle Fälle waren es Leute von Stamm der Sueben, Genossen Egberts, die sich über folgendes unterhielten: Egbert habe mit den Anführern der Trever eine Verhandlung angefangen und sich in die Stadt Bonn begeben, um dem Kaiser, der, um Freunde zu treffen, in dieser Stadt weilte, einen Hinterhalt zu bereiten, ihn zu ermorden und letztlich alle Römer aus Germanien zu vertreiben.
(10) Nachdem diese Worte vernommen waren, Sagte Rinoldus, als die kleine Schar vorbei gegangen war: „Ich habe keinen Zweifel, dass sie für diesen Plan die Neumond-Nacht bestimmt haben. Weil der Neumond nahe ist, müssen wir eilig handeln!“ Darum beschlossen sie, dass Rudgarius am folgenden Tag nach Bonn eilen und den Kaiser von der Gefahr und dem Hinterhalt unterrichten solle. Dann setzten sie ihren Weg zur Höhle fort, da sie beide müde waren.
S. 21: Dem Kaiser wird ein Hinterhalt gelegt
(1) Am folgenden Tag brach Rudgarius, bei Sonnenaufgang aus dem Schlaf geschreckt war, nach Bonn auf. Weil die Familie Rinolds und Rudgars in diesem Teil Germaniens viele Freunde hatte, die dem jungen Mann helfen konnten, fand er nicht gerade schwer jemanden, der ihm ein kräftiges Pferd überließ. Ohne Verzug erreichte er im Galopp am zweiten Tag Bonn. Weil die Stadt sehr viel besucht war, vergeudete Rudgarius viele Stunden mit Fragen, wo die Wohnungen der Römer (gelegen) seien. Dann schließlich – es war der Tag nach Neumond – fand er das Haus der Freunde des Kaisers. Zur selben Zeit, als sich der Jüngling dem Haus näherte, trat der Kaiser selbst, mit Toga und Mantel bekleidet, da die Witterung schon kalt war, aus der Tür. Plötzlich bemerkte Rudgarius irgendeinen Mann, der aus einem benachbarten Gebäude vorsichtig heraus trat und dem Kaiser entgegen ging.
(15) Als jener den Kaiser ansprach, verfolgt Rudgarius, der den Kaiser in Gefahr vermutet, mit schnellem Schritt dem Mann und bringt ihn, sobald er ihn den Dolch aus dem Umhang ziehen sieht, zu Fall, indem er einen Fuß vorstreckt und gleichzeitig „Achtung, Kaiser!“ ruft.
(23) Mehrere Passanten überwältigen den Mann und entreißen ihm den Dolch. Durch langes Befragen zeigte es sich schließlich, dass er ein Genosse Egberts war, dem in der Versammlung, die in der voran gegangenen Nacht abgehalten worden war, anvertraut worden war, den Kaiser aus dem Weg zu räumen. An seine Milde denkend schonte der Kaiser das Leben des Menschen und ließ ihn in Fesseln werfen.
S. 22: In der Stadt Bonn
(1) Endlich ist (wird) dem Kaiser die Möglichkeit gegeben, Rudgarius zu begrüßen. Er umarmte ihn und sprach: „Ich schulde Dir größten Dank, weil du den da daran gehindert hast, mich zu ermorden! Nun gehört es sich wirklich, dass du mit mir ins Haus meiner Freunde gehst, das mit du sie (jene) kennen lernst.“ Nachdem dort viele Speisen – Brot, Sauermilch, Honig und andere Dinge – von einem Sklaven gebracht worden waren, berichtete Rudgarius dem Kaiser von allem, was er selbst zusammen mit dem Onkel im Dickicht verborgen gehört hatte. Als der Kaiser diese Dinge mit ernster Miene vernommen hatte, betrat ein hübsches Mädchen das Zimmer. Der Kaiser rief hocherfreut aus: „Hallo, Marcia! Dies ist Rudgarius, ein Freund und Verursacher meines Wohls“, und zu Rudgarius gewandt: „Jenes reizende Mädchen – oder soll ich lieber sagen: junge Frau? – ist Marcia, die Tochter meiner Gastfreunde. Marcia tritt sofort vor und streckt Rudgarius die Hand entgegen; beide erröten.
(15) Wenig später treten Marcias Eltern, Gaius Marcius Trebonius und Gerlinda, seine germanische Gemahlin, ein. Trebonius, der Reiteroffizier im römischen Heer gewesen war, hatte sie in einer gewissen Stadt am Rhein kennen gelernt und geheiratet (in die Ehe geführt). Gerlinda lud Rudgarius großzügig ein, einige Tage in ihrem Haus zu verweilen. Darüber war Rudgarius sehr erfreut.
(22) Am Abend, nachdem sie vorzüglich gespeist hatten – den Geschmack des Lorbeer-gewürzten Spanferkels priesen sie besonders – spazierten Marcia und Rudgarius zum Spaß/Vergnügen durch die Stadt. Diese Gelegenheit nutzend erzählte Marcia dem Jungen, dass ihr Vater Gaius eine Jahre zuvor im Heer des Kaisers Dienst getan habe und, als er sein Amt niedergelegt hatte, sich Bonn zum Wohnsitz gewählt habe, um in dieser Stadt später ein Tuchgeschäft zu eröffnen. Die Wolle werde aus Oberitalien eingeführt und in Bonn gesponnen und gewebt, jedoch würden die Webmuster in Rom gefertigt. Während sie sich so unterhielten (solche Gespräche untereinander abhielten), bewunderten Rudgarius und Marcia die wunderschönen Läden der Stadt.
S. 23: Marcia wird entführt!
(1)Obwohl es schon dunkel wurde, hielten sich dennoch bis jetzt viele Menschen in den Gassen und Straßen auf. Durch den Lärm aber wurde Rudgarius, der die Stille der Wälder bevorzugte, ziemlich geplagt, zumal es zu keiner Zeit, außer abends noch nachts, erlaubt war, mit Wagen in der Stadt zu fahren. Einige Menschen fuhren mit einem Karren – es war eher ein Reisewagen – an ihnen vorbei, als plötzlich die Tür eines Wagens geöffnet würde, ein kräftiger Mann ausstieg, Marcia ergriff und sie ins Innere riss. Marcia widersetzte sich heftigst und Rudgarius, der sie verteidigen wollte, wurde von einem Rad zu Boden gerissen und fiel hin. Marcia wurde mit Gewalt ergriffen und im Wagen fortgebracht. Dies alles spielte sich in einer solchen Geschwindigkeit ab, dass es kaum von anderen bemerkt wurde.
(12) Wenn Rudgarius auch aufsprang und den Wagen zu verfolgen begann, merkte er doch bald, dass es zwecklos war. Endlich kehrte er tief betrübt zu den Gastfreunden zurück. Nachdem der Sachverhalt mit wenigen Worten geschildert war, konnten weder der Kaiser noch Marcias Eltern recht erkennen, warum das Mädchen entführt worden war. Gerlinda und Gaius saßen rat- und sprachlos da, der Kaiser ging zornig auf und ab.
S. 24: Marcia in der Gewalt der Germanen
Mittlerweile war Marcia in ein anderes Haus gebracht worden. Während sie im Reisewagen saß, konnte sie, weil die Augen mit einem Stofffetzen verbunden waren, nicht sehen, in welchen Teil der Stadt sie gebracht wurde. Als endlich der Fetzen abgenommen war, sah sie sich in einem Raum ohne irgendein Fenster, der nur von zwei kleinen Öllampen erhellt wurde. Sie selbst saß auf einer Kiste. Ihre Entführer waren ein junger Mann und eine junge Frau, beide Germanen, soweit Marcia es aus ihrer Kleidung erkannte. Zornentbrannt fragte das Mädchen: „Warum habt ihr mich entführt und hierher gebracht? Ich habe euch kein Unrecht angetan!“ – Zur Antwort gab man ihr: „Wir wollen den Kaiser zwingen, Germanien möglichst sofort zu verlassen. Wir brauchen die römischen Soldaten nicht!“ Marcia jedoch: „Aber die Römer leben schon viele Jahre gemeinsam mit den Germanen in dieser Stadt! Um ein Beispiel anzuführen, mein Vater ist ein echter Römer, doch hat er eine Germanin geheiratet.“ – „Also hat deine Mutter der Sache der Germanen großen Schaden zugefügt!“ entgegnete die junge Frau. – Von diesen Worten sehr erregt, sprang Marcia von ihrem Sitzplatz auf, wurde aber von dem jungen Mann zurück gestoßen. – „Und was habt ihr nun wirklich vor?“ fragte Marcia. „Das wirst du bald sehen! Frag nicht so viel!“ Nachdem er diese Worte gesprochen hatte, verließ der Germane den Raum.
S. 25: (Über) die von den Germanen überbrachten Bedingungen
(1)Im Haus von Gaius und Gerlinda kann der sehr aufgewühlte Rudgarius in der Zwischenzeit nicht schlafen. Darum geht er nach draußen; als er durch den Garten spaziert, hört er plötzlich jemanden ganz in der Nähe pfeifen. Er sieht einen Mann an einem Baum stehen und ihm ein Wink-Zeichen geben. Während Rudgarius sich vorsichtig nähert, erkennt er, dass es der germanische Jüngling ist. Dieser spricht ihn in suebischer Sprache an: „Die Anführer der Germanen haben uns aufgetragen, Marcia, die Tochter des Gaius Trebonius zu entführen. Diese ist nun als Geisel in unserer Gewalt. Ich überbringe euch zwei Bedingungen, falls ihr wollt, dass Marcia unbeschadet zurück gebracht wird: die eine, dass der Kaiser Norbert, Egberts Sohn, den ihr gefangen haltet, aus der Haft entlässt; die andere, dass der Kaiser mit allen seinen Truppen aus dem Gebiet der Germanen verschwindet und sich ans andere Rheinufer begibt. Teile dies dem Kaiser mit! Ich werde morgen zur selben Zeit zurück kehren.“ Nachdem er dies gesagt hatte, ging der Germane schnell fort. Als Rudgarius, indem er rief. „Ich will mit Marcia sprechen!“ ihn verfolgte, war jener schon aus seinem Blickfeld verschwunden.
(19) Sofort kehrte Rudgarius zu den Freunden zurück und erzählte alles, was er gehört hatte, dem Kaiser und den Gastfreunden. Fast zwei Stunden überlegten sie hin und her, doch sie konnten keinen Entschluss fassen. Schließlich ging Rudgarius müde schlafen.
(23) Als er am Morgen aus dem Schlaf erwacht war, stand Rudgarius nicht sofort auf, sondern blieb noch eine Weile im Bett und dachte über das nach, was sich am vorigen Tag zugetragen hatte …
S. 26: Wie man eine List anwendet
(1)Als es dämmerte und sie Gassen schon von der Dunkelheit verborgen und die Geschäfte geschlossen waren, warteten Gaius und Rudgarius im Gebüsch versteckt im Garten. Wenige Menschen fuhren jetzt noch mit knarrenden Wagen am Haus des Trebonius vorbei.
(5) Sieh da! Wieder hört man ein Pfeifen. Sofort erhebt Rudgarius sich, tritt aus dem Gebüsch hervor und sagt in suebischer Sprache: „Da bist du ja! Hier können wir uns ohne Zeugen und sicher vor Gefahr unterhalten!“ Jener zögert ein wenig, nähert sich dann aber vorsichtig um sich blickend.
(9) Es ist der (jener) selbe junge Mann, der am Vortag gekommen war. „Also!“ sagt er, „Wie war des Kaisers Antwort?“ – Im selben Moment springt plötzlich Gaius Trebonius aus dem Gebüsch hervor und packt den Germanen von hinten. Als jener etwas ausrufen will, verstopft Rudgarius ihm schnell den Mund mit einem Knebel (Stofffetzen). Mit gemeinsamer Anstrengung überwinden und fesseln Gaius und Rudgarius ihn, obwohl er sich heftig wehrt.
(15) Nun zeig uns das Haus, in dem ihr meine Tochter versteckt haltet!“ ruft Trebonius laut und zornig. Als der Germane, der nicht antworten kann, mit unbewegter Miene stehen bleibt, droht Gaius ihm mit der Faust und ruft aus: „Wenn du nicht sofort antwortest, werden wir dich übel zurichten und niederstrecken!“ Da endlich deutete jener mit einem Wink an, dass er Folge leisten wolle.
S. 27: (Über) das wunderbare Ende
(1) Als danach seine Fußfesseln gelöst waren, umfasste jeder fest einen Arm dessen. Rudgarius hielt einen Dolch in der Hand. Darauf führte der Germane, der von riesiger Fürcht erregt war, sie zu jenem Haus. Als sie dort angekommen waren und dem Gefangenen den Knebel aus dem Mund genommen hatten, rief der zum Haus gewandt aus: „Öffne die Tür! Ich bin es (selbst)!“, und sobald eine Frau die Tür gehorcht und die Tür geöffnet hatte, stießen Gaius und Rudgarius den Germanen hinein.
(8) Als sie dies gesehen hatte, flüchtete sich die Frau, von den Göttern Hilfe erflehend, in den inneren Teil des Wohnhauses. Während Rudgarius den jungen Mann bewacht, indem er ständig den Dolch in der Hand hält, rennt Trebonius „Marcia! Marcia!“ rufend durch das ganze Haus. – „Hier bin ich, Vater!“ Endlich findet er seine Tochter gefesselt auf einer Liege. Er sieht gleich, dass sie unversehrt ist, löst ihre Fesseln, umarmt und küsst sie.
(15) Anschließend durchsucht er das ganze Gebäude, bis er das germanische Mädchen findet. Dann ruft er: „Komm her, Rudgarius!“ – Den Dolch ausgestreckt schiebt jener den Germanen ins Zimmer vor, in dem Gaius, Marcia und die Germanin stehen. Zu den Verbrechern gewandt befiehlt Gaius: „Ihr da, setzt euch hin, da, auf diese Liege!“ Nachdem dies geschehen ist, holt auch er selbst den Dolch hervor und … Rudgarius und Gaius schnitten den beides Germanen die Haare ab! Als dieses Wer vollbracht war, sprach Trebonius: „Meldet folgendes euren Kumpanen: Mit derselben Strafe wird jeder belegt, wer auch immer irgendetwas von den Römern zu erpressen wagt (wagen wird)!“